Frau Aigner, mal ganz provokativ gefragt: Kann man trotz kleiner Kinder guten Sex haben?
Natürlich! Allerdings verändert sich Sex ganz grundlegend, wenn aus Mann und Frau Vater und Mutter werden. Da ist auf einmal ein junger Mensch, der rund um die Uhr Liebe, Aufmerksamkeit und Betreuung braucht – der Schlafmangel kommt noch hinzu. Dies wirkt sich auf das gesamte Leben aus. Außerdem müssen Eltern sich in die Organisation und ihre neuen Rollen einfinden: Wie lange kannten sich beide? Wuchs der Kinderwunsch in einer stabilen Partnerschaft? Wurde die Frau ungeplant schwanger?
Vorher konnte sich das Paar ausschließlich sich selbst widmen. Ist das Kind da, stellt sich die Frage, wer welche Aufgabe übernimmt und wie es demjenigen damit geht. Fühle ich mich noch attraktiv als Frau? Habe ich zugenommen? Hatte ich einen Kaiserschnitt oder einen Dammriss? Dann schmerzt Geschlechtsverkehr anfänglich. Es ist also ganz normal, dass Sexualität während der ersten Wochen und Monate nach der Geburt in den Hintergrund tritt. Haben die Eltern dann einen guten Umgang mit der neuen Situation gefunden, reguliert sich auch der Sex wieder. Aber das ist für beide eine große Herausforderung. Mit einem Ohr sind Eltern immer beim Kind. Ungestörter Sex in der ganzen Wohnung wie früher ist nicht mehr möglich. Es kann sich aber eine andere Sexualität entwickeln, eher unter der Bettdecke. Das ist nicht schlechter, nur anders.
Der Sex wird in der Regel nicht nur anders, sondern auch seltener, sobald ein Kind da ist. Was sind die Gründe dafür?
Da ist zunächst die höhere Belastung, der beide Elternteile ausgesetzt sind – weniger Schlaf, mehr Stress. In Deutschland gilt noch häufig die klassische Aufteilung: Die Mutter ist mit dem Kind zu Hause, stillt und trägt es. Der Mann erlebt im Job maximal Handshakes und hat ganz andere körperliche Bedürfnisse, wenn er abends nach Hause kommt. Viele Frauen empfinden seine Zärtlichkeiten dann als „Overload“ an Körperkontakt. Sie wollen einfach ihre Ruhe und nicht mehr berührt werden.
Und daraus entstehen dann Konflikte?
Ja, das birgt Zündstoff. Der Mann fühlt sich in seinem Begehren zurückgewiesen und kann dann verständlicherweise gereizt reagieren. Genauso nachvollziehbar ist es, wenn die Frau sagt: „Ich kann und mag nicht mehr, ich will einfach nur schlafen.“
In meiner Praxis erlebe ich auch immer wieder, dass Frauen Ende 20 bis Ende 30 hormonell einen so starken Kinderwunsch und Nestbautrieb entwickeln, dass sie – und das sage ich jetzt überspitzt – einen Erzeuger und späteren Ernährer suchen, aber der Mann die Frau nach der Geburt nicht mehr als Mann interessiert. Der fühlt sich dann regelrecht missbraucht. Das ist hochkritisch. Umgekehrt kann es vorkommen, dass ein Mann Schwierigkeiten mit der Rollenfindung als Vater hat und nicht weiß, wie er mit dem Kind umgehen kann. Beides ist kein Einzelfall.
Ist das Kind im Elternbett dann auch eine willkommene Ausrede dafür, dass das Liebesspiel wieder einmal ausfallen muss?
Manchmal ja. Das Kind zwischen sich als Paar zu legen, kann ein Vermeiden der eigentlichen ehelichen Konflikte oder ein Zeichen von Leere sein und das ist, im übertragenen Sinne, Missbrauch am Kind. Kinder haben ein feines Gespür dafür, was Eltern brauchen, auch für die unausgesprochenen Bedürfnisse, und versuchen, diese zu erfüllen.
Gehört Sex zu einer funktionierenden Beziehung unbedingt dazu?
Körperliche Nähe und Sexualität sind menschliche Grundbedürfnisse. Das sagt auch die WHO. Ich formuliere „Körperlichkeit und Sexualität“ doppelt, denn es geht dabei nicht nur um Ekstase oder Multiorgasmus, wie es uns von den Medien vorgegaukelt wird, sondern bei Sex zwischen zwei Liebenden ist es „Liebe machen“. Wir alle wollen uns angenommen fühlen. In der Partnerschaft dient Sexualität der Rückversicherung: Wir gehören zusammen. Wir sind nicht nur ein Elternteam, sondern ein Paar. Es ist erwiesen, dass Paare, die regelmäßig Sex haben – was immer auch „regelmäßig“ heißt – toleranter in Konfliktsituationen reagieren. Wenn ich mich körperlich gut im Kontakt mit dem anderen erlebe, bleibe ich gelassener und sehe über einiges leichter hinweg. In meiner Praxis höre ich oft: „Ich explodierte wegen einer Kleinigkeit, weil mir eigentlich Sex fehlt.“ Der Streit entlädt sich dann an der Zahnpastatube. Aber darunter liegt eigentlich dieses körperliche Defizit. Sex macht einfach toleranter, entspannter, vertrauter.
Frau oder Mann: Wer leidet aus Ihrer Sicht mehr darunter, wenn das Sexualleben ganz hinten ansteht?
Beide. Das Klischee „Männer wollen immer nur das eine und Frauen haben Migräne“ stimmt nicht. Wem wann mehr Sex fehlt oder wer nicht mag, ist abhängig von der jeweiligen Lebenssituation. Bei Paaren mit Kindern ist es jedoch schon häufig so, dass der Mann gerne mehr Sex hätte. In Beratung wird dann oft klar, dass das eigentliche Thema ein ganz anderes ist. Es geht nicht um Sex, sondern um zu wenig Vertrauen, das Gefühl, dass etwas unausgewogen ist, einer gibt mehr als der andere. Oder im Gespräch kommt raus, dass „zu wenig Sex“ eigentlich „zu wenig guter Sex“ heißt: „Wir haben schon Sex, aber der ist langweilig und immer gleich.“ Dann gilt es herauszufinden, wer was will – wilder, zärtlicher, länger, kürzer, romantischer, leidenschaftlicher. Es braucht Feingefühl, langsame Annäherung, Übung und auch Sprache.
Doch über die eigene Sexualität zu sprechen, fällt vielen eher schwer. Warum ist das so?
Wir haben oft nicht gelernt über Gefühle, körperliche Bedürfnisse und sexuelle Wünsche zu sprechen. Hinzu kommt, dass Sex ein sehr sensibles Thema ist. Beim Sex sind wir nackt, nicht nur körperlich. Da tauchen Fragen auf: Mag ich meinen Körper? Oder schäme ich mich, weil ich mich zu dick finde, keinen Sixpack oder zu kleine Brüste habe? Kann ich mich selbst befriedigen oder hatte ich noch nie einen Orgasmus? Wenn ich weiß, was ich sexuell möchte, ist der nächste Schritt, dies auch zu formulieren. Sexuelle Kommunikation funktioniert besser über positive Bestätigung als über Kritik. Das bedeutet zum Beispiel beim Liebesspiel zu sagen „Das ist total schön, was du gerade machst, mach bitte weiter, oder probiere es doch noch ein bisschen so und so“. Wenn wir „Nein, so nicht!“ sagen, weisen wir den anderen zurück und der fühlt sich dann hilflos, ungenügend und kritisiert.
Über Sex können wir auch „im Trockenen“ reden und Fantasien austauschen, zum Beispiel gerne mal verführt zu werden. Wenn der andere etwas Unerwartetes vorschlägt, ist es gut, erst einmal Luft zu holen, anstatt gleich Nein zu sagen. Viele haben das Bild im Kopf, sie müssten wissen, wie sie den anderen befriedigen und glücklich machen können. Aber wenn mein Partner mir nicht sagt „Fass mich bitte jetzt so an“, woher soll ich es dann wirklich wissen?
Und dann ist es auch noch jedes Mal anders …
Stimmt, das auch noch! Sex ist tagesform- und stimmungsabhängig. Das, was gestern toll war, funktioniert heute nicht mehr. Am Samstagabend, wenn man fein essen oder vielleicht sogar tanzen war, ist man viel angeregter als am Mittwochabend, wenn man von Arbeit und Überstunden völlig erschöpft ist. Generell gilt bei Paaren: Wer mehr Sport macht, hat mehr Sex. Nach einem stressigen Tag ist man abends im Bett noch mit der nächsten To-do-Liste beschäftigt, aber nicht im Moment. Wenn ich aber nach dem Joggen unter der Dusche stehe, ist der Kopf frei und der Körper in Wallung, der Serotoninspiegel erhöht. Dann hat man automatisch mehr Lust auf Sex.
Wann sollten sich Paare professionelle Hilfe suchen?
Viele Paare kommen zu spät. Deshalb sage ich: so früh wie möglich. Je früher, umso schneller hilft Beratung, die Liebe und die Sexualität zu beleben.
Wenn zwei Menschen bereits viele Jahre streiten oder der sexuelle Entzug schon sehr lange anhält, sind beide verletzt und mauern. Dann fällt es schwer, sich zu öffnen und nochmal in Liebe auf den anderen einzulassen. Manchmal hat sich einer innerlich auch schon verabschiedet. Dann läuft es leider auf Trennung hinaus. Beratung begleitet dann bei der bestmöglichen, friedlichen Trennung, was besonders wichtig ist, wenn Kinder da sind.
Wie schaffen Sie es, für eine gute Gesprächsatmosphäre zu sorgen?
Bei Therapie kommt es weniger auf die Methode, sondern vielmehr auf den zwischenmenschlichen Kontakt an, auf Vertrauen. Es ist eine sehr sensible Situation mit mir als Fremde über so Intimes wie Beziehung und Sexualität zu sprechen.
Die Chance von Beratung ist, etwas aussprechen zu können, was man zu Hause nicht wagen würde. Man weiß, dass es abgefangen, moderiert und übersetzt wird. Und der andere kann einfach zuhören, muss sich nicht gleich rechtfertigen, erklären oder angreifen. Durch diese Gesprächskonstellation lösen sich manchmal Themen schon von ganz alleine.
Gibt es konkrete Tipps, die Sie den Paaren mit auf den Weg geben, um ihr Liebesleben wieder in Gang zu bringen?
Das Wichtigste ist, sich in guter Absicht Zeit füreinander zu nehmen. Im Laufe der Jahre wird Sex automatisch weniger. Das ist normal. Manchmal muss man auch den inneren Schweinehund zu überwinden. Wie beim Joggen auch: Sofa wäre bequemer, aber nach dem Laufen fühlt man sich richtig gut.
Ich versuche, den Paaren immer ganz individuelle Aufgaben zu geben. Und es gibt Methoden, die sich bewährt haben. Zum Beispiel bei Konflikten ein Codewort einzuführen. Ist einer der Partner wach genug, während des Streits zu merken, dass gerade wieder so eine alte Leier losgeht, sagt er das Wort und dann müssen beide aufhören zu reden. Sie gehen auseinander und überlegen in Ruhe, worum es tatsächlich ging. Das wirkt gut, man bleibt wach, da keiner ertappt werden will.
Eine andere „Hausaufgabe“ kann sein, ein- oder zweimal pro Woche zu kuscheln oder sich zum Sex zu verabreden. Eine häufige Reaktion darauf ist: „Sex muss doch spontan sein. Daten ist doof und unsexy.“ Aber im getakteten Alltag mit Kindern ist es schwer, spontan Sex zu haben. Deshalb ist ein Date eine gute Lösung. Und man kann sich darauf freuen und vorbereiten. Eltern können einen Babysitter engagieren und es sich gemeinsam gutgehen lassen.
Es ist auch wichtig, dass jeder immer wieder Zeit für sich hat, für ein Hobby, gute Freunde oder Bewegung.
Für eine Verbesserung gibt es drei Komponenten: Mehr, weniger oder anders. Wenn alles zu viel ist, dann braucht es Entlastung. Wenn etwas fehlt, ist die Frage, was können wir Gutes hinzufügen. Und wenn es schiefläuft, dann muss die Stellschraube für Veränderung gefunden werden.
Eine letzte Frage: Manche Eltern fürchten, von ihren Kindern beim Sex „erwischt“ zu werden. Wäre das denn so schlimm?
Nein, Sex gehört zum Erwachsenenleben. Aber wenn mitten im Liebesspiel die Tür aufgeht, dann erschrecken natürlich trotzdem alle drei. Wichtig ist dann, dass die Eltern möglichst natürlich reagieren, was gar nicht so leicht ist. Vielleicht hat das Kind aus dem Schlafzimmer ihm unbekannte Geräusche gehört, dann müssen ihm die Eltern erklären, dass alles in Ordnung ist, dass Mama und Papa sich lieben und es sich keine Sorgen zu machen braucht. Je nach Alter der Kinder können sie auch ein Schild basteln, mit einem Herz zum Beispiel. Hängt das an der Türklinke, wissen die Kinder, dass die Eltern nicht gestört werden möchten. Im Familienleben braucht es Klarheit: Raum und Grenzen; Zuwendung und Zeit miteinander, aber auch Zeit für sich. Wenn sich Kinder darauf verlassen können, dass es ausreichend Familienzeit gibt, dann können sie den Eltern Zeit als Paar zugestehen. Das tut allen Familienmitglieder gut, den großen und den kleinen.
Gabriele Aigner ist Heilpraktikerin für Psychotherapie, systemische Sexual-, Einzel-, Paar- und Familientherapeutin in München, www.aigner-praxis.de