"Oh Manno, nein!!!" Schreckensbleich starrt mein Sohn auf das, was er da gerade ausgewickelt hat: den ganzen Harry Potter auf Kassette! Schwach sinkt Philipps Hand mit dem aufgerissenen Glitzerpapier zu Boden, dann knallt er voller Wut acht liebevoll mit Sternchen verzierte Hörbücher auf den Boden. Mit Tränen in den Augen stößt er hervor: "Das ist soo gemein von euch!" Dabei ist er doch eigentlich des Zauber-lehrlings größter Fan? Aber gewünscht hat er sich eben - einen Gameboy.
Streit am Friedensfest
Philipps Vater schickt einen giftigen Blick zu mir herüber. Siehst Du, das hast Du jetzt davon! Dabei wäre es doch so einfach gewesen, Philipp glücklich zu machen - und nebenbei das Weihnachtsfest zu retten. Mit dem Gameboy, den er sich seit Wochen sehnlichst wünscht. Schließlich haben alle anderen in der Klasse 4b auch so einen. Nur Philipp nicht. Dass das ruhig auch so bleiben könnte, habe ich gemeint, weil ich dem Gameboy-Gedaddel ansonsten aufgeweckter Grundschüler nichts Positives abgewinnen kann. Dass man einem Zehnjährigen seinen Herzenswunsch erfüllen kann, auch wenn man nicht begeistert von dem Objekt seiner Begierde ist, hat Philipps Vater immer wieder empört dagegengehalten. Wochenlang vor Weihnachten schwelte der Streit zwischen uns, eine Art elektrische Aufladung, die wie ein Magnet die Staubflocken andere Streitpunkte anzog: Gans mit Rotkohl oder Lammkeule mit Rosmarin? Strohsterne wie bei mir zu Hause früher, oder dicke goldene Kugeln wie in seiner Familie üblich? Kirchgang oder Spaziergang am Nachmittag? Zwei oder nur ein Großelternpaar, oder besser gar keine Omas und Opas zu Gast? Egal - schön soll es sein, so viel steht fest. Auch wenn darunter jeder etwas anderes versteht.
Große Erwartungen
Kein Fest, kein Feiertag, keine Ferienwoche im ganzen Jahr ist so hoch befrachtet mit Erwartungen wie Weihnachten. Nach all den Vorarbeiten ziehen wir uns festlich an und geben uns friedlich, fröhlich bis auf die Knochen. Wir schaffen eine künstliche Insel aus Liebe und Lichterglanz und singen, backen und basteln den Ausnahmezustand herbei, in dem endlich einmal Harmonie pur herrschen soll. Und dann haben wir die Bescherung: Philipp heult. Seine kleine Schwester guckt ratlos zwischen den Eltern hin und her. Papa ist stinksauer, Mama zu Tode beleidigt. Nach all dem Stress, den vielen Vorbereitungen, dem vielen ausgegebenen Geld, den endlosen Einkäufen, dem sorgfältigen Planen: und jetzt das!
Hohe Erwartungen an das Fest der Liebe lassen die Nerven schon Wochen vorher blank liegen - sogar bei heimlichen Weihnachtsmuffeln. Der dringende Wunsch nach Harmonie und Familienglück treibt uns an, spätestens wenn wir eine eigene haben, weil wir hoffen, dass an diesem Tag Probleme mit den Kindern, Ärger mit dem Partner einfach von selbst verschwunden sein werden.
Je instabiler das Familienleben ist, umso wichtiger werden die Geschenke. Wird ein Herzenswunsch erfüllt, auch wenn er dem Schenkenden schwachsinnig oder zu teuer erscheint? Wie viel Mühe hat sich jemand gemacht? Wurden die Geschenke mit Liebe ausgesucht, steckt eine gute Idee oder der drohende Ladenschluss dahinter? Getrennte Eltern stellen manchmal noch ganz andere unausgesprochene Fragen in den festlich geschmückten Raum: Wen hast du lieber, wer ist besser, wer hat das schönere Geschenk? Mama oder Papa?
Weihnachten bedeutet Arbeit
Besonders solange kleine Kinder im Haus sind. Plätzchenbacken, Weihnachtsmärchen, Lieder, Basteleien und Geheimnisse stehen für die Höhepunkte der Adventszeit, wenn sich die Kerzen in den Kinderaugen spiegeln und Gemütlichkeit sein soll. Zauberwesen wie das Christkind oder der Nikolaus bevölkern die Gespräche, beflügeln die Phantasie und bestärken den Glauben an das Gute in der Welt - jedenfalls bei den Kindern, die sich zum Nikolaustag wundersam beschenkt finden und auch an den restlichen dreiundzwanzig Tagen kleine Überraschungen im Adventskalender finden. Erst recht zum Fest sollen die Kinder im Mittelpunkt stehen: Es macht schließlich einfach Spaß, ein Kind zu beschenken, weil die Freude so ehrlich ist. Genauso wie die Enttäuschung, wenn statt des ersehnten Gameboys die gesamten Harry-Potter-Kassetten auf dem Gabentisch liegen.
Mehr als Geschenke
Dieses Mal bleibe ich vollkommen cool. Das ist sicher. Ist die Hauptsache nicht das, was über das Materielle hinaus geschenkt wird? Streit zwischen den Erwachsenen bis hin zu handgreiflichen Auseinandersetzungen, berichten die Mitarbeiter der Notdiensttelefone in verschiedenen Städten, sei das größte Problem der Kinder, die in der Weihnachtszeit dort anrufen. Viele Kinder, die zu einem Elternteil keinen Kontakt mehr haben, sind zu Weihnachten besonders traurig. Andere rufen an, weil ihre Eltern gedroht haben, dass Weihnachten zur Strafe für irgendeine Missetat ausfällt oder dass es keine Geschenke gibt.
Familien, in denen die Bedürfnisse aller Mitglieder respektiert werden, haben es leichter, ein schönes Fest miteinander zu feiern. In einem Klima, in dem jeder sagen kann, was er denkt, fühlt und sich wünscht, sind große Krisen eher die Ausnahme - nicht nur zur Weihnachtszeit. Wie wollen wir feiern? Das habe ich die Kinder dieses Mal im Oktober schon gefragt. "Hauptsache wir feiern zusammen und haben viel Zeit, zusammen zu spielen", hat Philipp gemeint, und dabei sogar kurz von seinem Gameboy hochgeschaut.