Vor zwei Tagen schon sei das Kaninchen ausgebüxt, hatte Bauer Uwe gesagt. Wir waren übers Wochenende aufs Land gefahren, und unsere Berliner Großstadt-Kinder begeisterten sich sofort für die Tiere auf dem Ferien-Bauernhof. Jetzt aber waren sie beunruhigt. „Der Hase wird doch vom Fuchs gefressen“, fürchtete Paula, unsere Sechsjährige.
Am Sonntagnachmittag dann entdeckten die Kinder das Tier unter einem parkenden Auto am Wiesenrand. Wie besessen versuchten sie es zu fangen, doch das Kaninchen rannte, schlug Haken und verkroch sich immer wieder in engen Verstecken. Erst nach anderthalbstündiger Jagd konnten die Mädchen mit leuchtenden Augen verkünden, dass sie es erwischt hatten. Charlotte, mit vier Jahren die kleinere Schwester, streckte ihm gleich einige Löwenzahnblätter hin: „Jetzt kriegt es endlich wieder was zu fressen“, stellte sie fest – auch wenn das Tier angesichts der saftigen Wiesen rundherum sicher keinen Hunger gelitten hatte.
Fühlen mit der Kreatur
Empathie – die Fähigkeit, sich in die Bedürfnisse anderer einzufühlen – können Kinder im Umgang mit Tieren erlernen. Nicht nur deshalb fördert der Umgang mit Vierbeinern auch die Entwicklung des menschlichen Nachwuchses. „Schon Babys interessieren sich stärker für Tiere in ihrer Umgebung als zum Beispiel für unbelebte Dinge“, erklärt die Psychologin und Sonderpädagogin Andrea Beetz von der Forschungsgruppe „Mensch und Tier“ an der Universität Rostock. Dazu passt die Biophilie-Hypothese, die der US-amerikanische Biologe Edward Wilson entwickelt hat. Gemeint ist die „Liebe zu Lebendigem“, die schon Mitte des 20. Jahrhunderts analysiert wurde. Das klappt auch im Computer-Zeitalter noch: Um einen Hund oder eine Katze zu streicheln, lassen die meisten Kinder zumindest kurzfristig auch das beliebteste Bildschirmspiel links liegen.
In der Kindererziehung können Tiere deshalb eine wichtige Rolle spielen. „Sie sind authentisch und nehmen das Kind wie es ist, während Eltern immer auch bestimmte Erwartungen an ihren Nachwuchs haben“, sagt Psychologin Beetz. „Tiere schaffen eine positive Atmosphäre und ermöglichen Körperkontakt.“ Auch beim Streicheln eines Hundes könne ein Kind Trost finden, wenn es zum Beispiel Streit mit Mama oder Papa hatte. Das funktioniert aber nur bei Tieren, zu denen die Kinder eine Bindung haben. „Zwei Besuche pro Jahr auf dem Bauernhof reichen da nicht“, schränkt Beetz ein, „aber ein Hund als Heimtier kann als Freund wahrgenommen werden und bei der Stressbewältigung helfen.“
Labortests haben ergeben, dass der Körperkontakt zu einem bekannten Hund, etwa beim Streicheln, im menschlichen Körper zur Ausschüttung des Hormons Oxytocin führt, das unter anderem soziale Bindungen stärkt. „Nach Expertenschätzungen lebt heutzutage jedes zweite Kind mit unsicheren Bindungen in der Familie“, erklärt die Psychologin. Tiere könnten dazu beitragen, dieses Defizit ein Stück weit auszugleichen.Belastbare Studien zu dem Thema gibt es allerdings nicht.
Tiere als therapeutische Helfer
Lehrer oder Therapeuten machen sich diese Möglichkeiten der Tiere mittlerweile zunutze. „In Hauptschulen setzen wir Hunde ein, um das Einhalten fester Regeln zu üben“, berichtet Alisa Beckstein. Sie ist Ergotherapeutin am Institut Sven Kästner, freier Journalist, schreibt unter anderem über frühkindliche Bildung, aber auch über Ernährung, Klima und historische Themen für soziales Lernen mit Tieren. In Lindwedel bei Hannover werden für die Therapeuten 50 verschiedene Tierarten gehalten, die je nach Bedarf für Behandlungen
und Förderprogramme eingesetzt werden können. „Das hängt ganz von der Therapie und den Bedürfnissen der Kinder ab“, sagt Beckstein. „In der Psychiatrie zum Beispiel bieten sich Tiere als Eisbrecher an, um überhaupt erst mit den Patienten ins Gespräch zu kommen.“
Auch bei der Arbeit in Schulen geht es um Aufmerksamkeit und Motivation. „Tiere sind sensibel und sie spiegeln gut“, berichtet die Ergotherapeutin. „Wenn ich nicht vorsichtig mit dem Tier umgehe, wird es nichts von mir wissen wollen. Somit haben Kinder eine Motivation, auf die Bedürfnisse des Tieres zu achten.“ Gerade in Schulen mit vielen Kindern aus schwierigen sozialen Verhältnissen sei das ein wichtiger Lerneffekt.
Verantwortung für Tiere
Ein Wochenendausflug auf den Bauernhof zeigt auch, dass Kinder gerne für Tiere Verantwortung übernehmen. Unsere Töchter rissen sich darum, Ziegen, Kaninchen oder auch Kühe zu füttern. Und sie sahen vor jeder unserer Mahlzeiten nach, ob auch die Vierbeiner noch
genügend Futter hatten. Kinder bemerken, dass sie das Verhalten der Tiere beeinflussen, etwas mit eigener Kraft bewegen können. Darüber hinaus erfahren sie natürlich auch einiges über Natur und Umwelt. Sie staunen, wie schnell ein ausgebüxtes Kaninchen laufen kann. Sie lernen, dass Ziegen nicht jeden hingehaltenen Grashalm fressen, oder sehen, wie zart ein neugeborenes Ferkel ist.
„Das sind Erlebnisse, mit denen Kinder die Welt entdecken“, sagt der renommierte Hirnforscher Gerald Hüther. Denn beim Bauernhofbesuch werden viele unterschiedliche Sinne angesprochen. Das sorgt dafür, dass sich vielfältige Verknüpfungen im Gehirn stabilisieren. Und weil man ständig in Bewegung ist und auch mal klettert, werden außerdem Motorik und die räumliche Orientierung
geschult. „So etwas passiert nicht in Bildungskursen, in denen die Mädchen und Jungen etwas vorgesetzt bekommen“, so Hüther. „Dazu braucht es Erfahrungen, die Kinder selbst machen können.“
Tiere sind kein Spielzeug!
Die Entscheidung, für die Kinder ein Haustier anzuschaffen, sollte gut überlegt werden. „Man muss sich im Klaren sein, dass man Kinder in diesem Punkt nicht überfordern darf“, warnt die Psychologin Andrea Beetz. „Das Haustier darf nicht alleine den Kindern überlassen werden.“ Mädchen und Jungen im Kita- Alter sind mit der Verantwortung und Pflege eines Tieres noch überfordert. In jedem Fall sollten alle Familienmitglieder mit der Anschaffung von Hund, Katze oder Meerschweinchen einverstanden sein. Mit Unterstützung der Erwachsenen kann sich dann eine oft langjährige positive Beziehung zwischen Kind und Tier entwickeln.