Stress mit den Kindern ums AnziehenDas Drama mit den Klamotten

Viele Eltern können ein Lied davon singen. Doch müssen wir uns den täglichen Stress ums Anziehen wirklich antun? Ein Plädoyer für mehr Gelassenheit

Das Drama mit den Klamotten
Nicht jeder kann den Kleidergeschmack der Kinder immer nachempfinden… © Daniela Kohl

Meine Tochter ist vier Jahre alt und hat ausgesprochen klare Vorstellungen in Bezug auf Kleider. Ohne Zögern und Zaudern teilt sie den Inhalt ihres Kleiderschrankes in „schön“ und „hässlich“ ein, nimmt Kategorisierungen wie „mein liebstes Stück“ und „das geht ja gar nicht“ vor und marschiert unbeirrt und stetig auf dem Pfad der gewagten Stilkombinationen. Passen rosarote Gummistiefel zu einem orange getüpfelten Badeanzug? Ich finde: „Äh, lass mich mal kurz überlegen ... eher nicht.“ Sie dagegen findet: „Unbedingt!“ Wenn das liebe Kind sein sorgfältig zusammengestelltes Outfit nur in der eigenen Wohnung tragen möchte, ist das ja alles kein Thema. Will es aber damit auch noch Bus fahren, und zwar durch die ganze Stadt, wird es plötzlich zum Problem. Und zwar zu meinem.

Kleider sind ein gutes Übungsfeld

Über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten. Aber noch viel mehr gestritten wird über die Frage der Angemessenheit. Wie warm muss es draußen sein, damit man es wagen kann, die Handschuhe wegzulassen? Wie trocken sollte der Boden sein, damit das Kind anstelle der ledernen Turnschuhe mit Sohlen aus Naturkautschuk ein Paar Plastiksandalen tragen darf? Wie viel Grad muss der Einfallswinkel der Sonne betragen, um das Tragen eines Hutes, natürlich aus UV-undurchlässigem Stoff, zur Pflicht zu machen? Wir Eltern haben meist sehr klare Vorstellungen davon, wann welches Kleidungsstück angemessen ist oder eben nicht. Das Problem ist, dass unsere Kinder ebenso klare Vorstellungen haben, die sich aber nicht immer mit unseren decken.

Die Frage, die sich im Zusammenhang mit der Kleiderdebatte stellt, ist folgende: Was wollen wir eigentlich erreichen? Wollen wir unsere Kinder zu Menschen erziehen, die sich stets anpassen, nie durch ungewöhnliche Farbkombinationen auffallen, den Pullover immer richtig herum tragen und keine eigene Meinung zu den ästhetischen Belangen des Lebens entwickeln? Die noch im Erwachsenenalter Mama fragen müssen, ob sie für ihren Urlaub auf den Kapverdischen Inseln wohl einen Schal und eine Wollmütze einpacken sollten, da die Minimaltemperatur laut Wikipedia nachts erstaunlicherweise doch auf unter zwanzig Grad sinken kann? Oder ist das Ziel unserer Erziehung, dass aus Kindern – die, zugegeben, anfänglich noch viel Anleitung brauchen – Menschen werden, die eigene Entscheidungen treffen können, wissen, was ihnen gefällt und was nicht, kreative Ideen entwickeln und es auch mal aushalten, wenn sie in Bezug auf ihre Kleidung eine unangemessene Wahl getroffen haben?

Wenn wir uns Letzteres wünschen, ist es unerlässlich, dass wir unseren Kindern immer wieder Möglichkeiten bieten, eine eigene Wahl zu treffen und sie auch die Konsequenzen derselben tragen lassen. Wir als Eltern haben die Verantwortung, durch klare Grenzen einen sicheren Rahmen zu schaffen. Aber innerhalb dieses Rahmens braucht ein Kind Freiräume, um selbstständig werden zu können. Trauen wir ihm zu, selbst zu merken, dass es einem im Winter ohne Jacke irgendwann kalt wird? (Hier ist noch anzumerken, dass wir Erwachsenen häufig viel schneller frieren als die Kinder, da wir ja meist nicht wie die Verrückten die Rutschbahn rauf- und runtersausen oder schaukeln, was das Zeug hält.) Trauen wir ihm zu, eine eigene Schuhwahl zu treffen, auch wenn die Gefahr besteht, dass es im Hochsommer Gummistiefel als „angemessen“ erachtet?

Selbst spüren, wann man friert

Mein Sohn durchlebte im letzten Winter eine „Anti-Jacken-Phase“. Er wollte auch bei Minustemperaturen keine anziehen und beteuerte stets, ihm sei wunderbar mollig warm. Mir hing die tägliche Jacken-Diskussion zum Hals raus und schon der Gedanke an den täglichen Streit ermüdete mich. Wozu zwang ich ihn, eine Jacke anzuziehen? Natürlich, damit ihm warm ist! Damit er lernt, sich „angemessen“ zu kleiden. Doch wie kann er lernen, „angemessen“ und „unangemessen“ zu unterscheiden, wenn immer ich bestimme? Wir einigten uns also darauf, dass er die Jacke erst anziehen muss, wenn er spürt, dass ihm kalt ist. Beim Verlassen unserer Wohnung trug er diese glücklich unter dem Arm, nach zwei Minuten auf dem Spielplatz teilte er mir selbstgefällig mit, ihm sei immer noch warm. Nach zehn Minuten zog er das verhasste Kleidungsstück wortlos an. Seit er selbst entscheiden darf, wann ihm kalt ist, friert er erstaunlicherweise meistens schon im Flur.

Kinder brauchen Wahlmöglichkeiten

Ich plädiere nicht dafür, dass Kinder immer selbst bestimmen sollen, was sie anziehen. Wenn mein Ältester auf den Kindergartenausflug geht und ich weiß, dass er zwei Stunden durch den Wald bummeln wird, lasse ich ihn nicht seine Flipflops anziehen, auch wenn er beteuert, er könne in diesen meilenweit gehen. Aber er darf auswählen, ob er Sandalen oder Turnschuhe tragen möchte. Denn wenn er sich bei 30 Grad trotz meiner Vorwarnung für die Turnschuhe entscheidet, sind heiße Schweißfüße eine Konsequenz, die ich ihm – und mir – zumuten kann. Wahlmöglichkeiten können bei Machtkämpfen sehr oft Abhilfe schaffen. Wie eng oder weit man als Eltern den „sicheren Rahmen“ steckt und wie viel Entscheidungsfreiheit man dem eigenen Kind zugesteht, muss jeder selbst herausfinden. Ich für meinen Teil weiß, dass die Welt nicht aufhört sich zu drehen, wenn ein kleines Mädchen im orange getüpfelten Badeanzug und rosaroten Gummistiefeln Bus fährt.

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