"Du brauchst doch keine Angst zu haben.“ Mit diesem beschwichtigenden Satz reagieren Eltern oft, wenn ihr Kind sich fürchtet. Damit
werden sie dem kindlichen Gefühl jedoch nicht gerecht, meint Erziehungsberater Jan-Uwe Rogge: „Es ist wichtig zu begreifen, dass die
Angst einen Teil der gesunden Entwicklung ausmacht, und dass es im eigentlichen Sinne nicht gesund ist, Kinder angstfrei aufwachsen zu lassen.“ Denn Angst ist ein menschliches Grundgefühl, seit Urzeiten warnt sie uns und schärft unsere Sinne, wenn es zu einer Begegnung mit dem – manchmal bedrohlichen – Unbekannten kommt. Das Gefühl der Angst mobilisiert Gehirn und Körper, durch sie können wir angemessen auf ungewohnte Situationen reagieren.
Kinder, die nahezu täglich etwas Neues erleben, kommen um die Angst nicht herum – im Gegenteil. Jeder Übergang in ein anderes Entwicklungsstadium wird automatisch von Ängsten begleitet: Es gilt, Abschied von etwas Vertrautem zu nehmen und sich auf Unbekanntes einzulassen. Alle Kinder haben also in bestimmten Phasen ihres Lebens Angst, aber sie müssen sich ihr nicht ohnmächtig ausgesetzt fühlen. Mütter und Väter können ihnen helfen, Ängste kennenzulernen und konstruktiv mit ihnen umzugehen. Dabei ist es vor allem wichtig, die Gefühle der Kinder zu akzeptieren. Denn diese haben nun einmal Angst vor Monstern, Dunkelheit, Gewitter, Trennung, Verlust oder Tod.
Das Kind mit seiner Angst annehmen
So manche tröstend gemeinte Formel will dem sich ängstigenden Kind in bester Absicht etwas Unangenehmes ersparen, doch sie bewirkt eher das Gegenteil: Die Kleinen fühlen sich mit ihrer Angst alleingelassen und nicht angenommen. Das Kind ist verunsichert: „Meine Angst ist falsch, meine Gefühle sind falsch, ich bin falsch.“ Schlimmstenfalls verfestigt sich eine solche Unsicherheit und aus einem
Kind, das sich gelegentlich fürchtet, wird irgendwann ein ständig ängstliches Kind.
Dabei kann der Umgang mit Angst Kinder sogar stark machen. Nämlich dann, wenn sie ihre Ängste wahrnehmen, aushalten und in den Griff bekommen – mit Methoden, die ihrem Temperament entsprechen, lautet der ermutigende Hinweis der Paar- und Familientherapeutin Felicitas Römer. Hilfreiche Strategien für diesen Weg gibt es viele: im Rollenspiel mal den Bösen, mal die Heldin mimen; das Unheimliche in eine Zeichnung bannen; mit dem Kuscheltier durch dick und dünn gehen. Wichtig ist die Erfahrung: „Ich kann meinen eigenen Kräften vertrauen, ich kann selbst etwas gegen das komische Gefühl tun.“ Das stärkt das Selbstwertgefühl und vermittelt das
Vertrauen darauf, auch mit künftigen Angstsituationen umgehen zu können. Und dann ist da noch der eigene, der elterliche Anteil am Grad der kindlichen Ängstlichkeit. Riskieren Sie also einen Blick in den Spiegel: Neigen Sie dazu, Ihrem Kind unschöne Erfahrungen ersparen zu wollen und es wie die bekannten Helikoptereltern übermäßig zu behüten? Dann sind Unsicherheit und Unselbstständigkeit die Folge – beides Gift für eine altersgerechte, selbstwirksame Entwicklung. Auch ein inkonsequenter Erziehungsstil kann verunsichern und Ängste auslösen. Denn Kinder brauchen einen festen, sicheren Rahmen und Geborgenheit, um sich auf unbekanntes Terrain vorzuwagen und
eigene Wege aus der Angst zu erproben. Eine Binsenweisheit zum Schluss: Kinder orientieren sich an ihren Eltern. Das gilt für Verhaltensweisen wie für Gefühlsäußerungen. Überprüfen Sie deshalb, welche Ängste Sie plagen und wie Sie mit ihnen umgehen: Halten Sie meistens an bewährten Mustern fest? Geben Sie Ihre Ängste unbewusst an den Nachwuchs weiter? Vielleicht bringt Sie ja die Beschäftigung mit den Ängsten Ihres Kindes dazu, sich einmal bewusst mit Ihren eigenen „wunden Punkten“ auseinanderzusetzen. Kein ganz leichter Prozess, für den man manchmal auch Hilfe von außen benötigt, der aber sicher viele Chancen für Sie und Ihre Familie eröffnet.
Schüchtern heißt nicht ängstlich
Manche Kinder springen mit Anlauf und Hurra ins kalte Wasser, andere wagen sich nur langsam vorwärts. Aber kommen forsche Kinder besser durchs Leben als zurückhaltende? Keinesfalls, lautet die Antwort von Felicitas Römer, Autorin von „Kinder dürfen Ängste haben“. Hier gibt sie Auskunft über den Umgang mit schüchternen Kindern:
Ist ein schüchternes Kind ein überängstliches Kind?
Ein als schüchtern bezeichnetes Kind ist zunächst ein etwas vorsichtigeres Kind. Es muss nicht zwangsläufig mehr Angst haben als andere Kinder. Im Gegenteil: Oft überspielen besonders aufgedrehte oder als aggressiv geltende Kinder ihre Ängste nur besser.
Was zeichnet ein schüchternes Kind besonders aus?
Der Begriff „schüchtern“ beinhaltet im Grunde eine negative Bewertung. Das ist schade und oft auch schädlich, vor allem, wenn das Kind immer wieder hört: „Nun sei doch nicht so schüchtern.“ Schüchterne Kinder sind meist sehr feinsinnig. Sie beobachten ihre Umgebung genau und lernen viel darüber. Sie achten gut auf ihre Grenzen und ihre Integrität und sind oft besonders umsichtig.
Viele Eltern befürchten, dass ihr zurückhaltendes Kind einmal Zielscheibe des Spotts oder gar Opfer von Handgreiflichkeiten wird. Ist diese Furcht berechtigt?
Schüchterne Kinder können sehr beliebt sein und gute, tiefe Freundschaften entwickeln. Schüchtern zu sein, bedeutet nicht zwangsläufig, zum Außenseiter oder Mobbingopfer zu werden. Wichtig ist allerdings, dass einem vorsichtigen Kind nicht ständig suggeriert wird, „falsch“ zu sein. Das untergräbt sein Selbstbewusstsein.
Wie können Mütter und Väter ihrem schüchternen Kind den Rücken stärken?
Eltern sollten das Kind so lieben und annehmen, wie es ist. Dazu gehört, sein Verhalten nicht ständig zu kommentieren oder gar zu kritisieren. Sie sollten ihm immer wieder kleine Herausforderungen zumuten, es aber nicht überfordern. Ein Kind hat noch viel Zeit, sich zu entwickeln. Diese Zeit sollten Eltern ihm auch lassen. Viele sehr erfolgreiche Erwachsene waren schüchterne Kinder!