Es ist das eigene Kind, das Eltern zuweilen am stärksten verstört. „Mit dem spiele ich nicht, der ist behindert“, hatte Jens Leonards Tochter eines Tages verkündet. Dabei war die Vierjährige bis dahin oft mit dem Nachbarsjungen zusammen auf dem Spielplatz. Dass Sandro ein Kind mit Down-Syndrom war, spielte nie eine Rolle. „Wir waren ziemlich geschockt“, gesteht Leonard.
In Gesprächen mit dem Kind stellte sich dann heraus, dass es nicht um die Behinderung an sich ging. Das Mädchen störte sich vielmehr daran, dass der Junge zuweilen recht robust um sein Spielzeug kämpfte – eingeschränkte Feinmotorik ist eine Folge des Down-Syndroms.
Für Petra Wagner ist das ein typisches Zeichen von „Vor-Vorurteilen“, wie die beginnenden Ressentiments kleiner Kinder in der Forschung genannt werden. Die Erziehungswissenschaftlerin leitet die Fachstelle Kinderwelten für vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung in Berlin. Unter anderem berät sie Kita-Träger und ErzieherInnen zu dem Thema. „Kinder schnappen Vorurteile auf und beginnen selbst damit zu experimentieren. Sie verstehen ja die Bedeutung noch nicht“, erklärt Wagner. Vermutlich habe Leonards Tochter das Wort „behindert“ in anderen Zusammenhängen gehört und daraus den Schluss gezogen, dass die Argumentation mit diesem Begriff überzeugender sei, als nur zu sagen: Der Junge ist grob, das mag ich nicht.
Diskriminierungen unter Kindern kommen auf unterschiedlichen Gebieten vor: Das einzige schwarze Kind in der Gruppe darf nicht mitspielen. Ein Junge wird wegen seiner dicken Mutter ausgelacht. Mädchen werden von Jungen nicht in die Fußballmannschaft gewählt.
Die Unterschiede zwischen den Menschen erkennen Kinder schon im frühesten Alter. Studien zeigen, dass sie schon im ersten Lebensjahr verschiedene Hautfarben wahrnehmen, ab etwa drei Jahren auf Behinderungen reagieren und sich etwa ab diesem Alter auch ihres Geschlechts bewusst sind. Den Umgang mit diesen Unterschieden müssen Kinder lernen. Ihre Erfahrungen prägen das
spätere Weltbild.
Vielfalt kennenlernen
In der Berliner Europa-Kita gehört es deshalb zum pädagogischen Konzept, gegen aufkeimende Ressentiments vorzugehen. Fast 80 Kinder aus dem Stadtteil Kreuzberg werden hier betreut. Wie die Bevölkerung dieses von alternativen Lebensentwürfen und Internationalität geprägten Kiezes ist auch die Herkunft der Kinder gemischt. Im hellen Raum der Vorschulgruppe hängen Familienfotos aller Jungen und Mädchen: Deutsche Mittelschichteltern sind hier ebenso zu sehen wie eine türkischstämmige
Großfamilie, eine alleinerziehende Mutter oder auch ein lesbisches Paar. „Mit den Bildern sind die unterschiedlichen
Familienverhältnisse in der Gruppe präsent und werden als selbstverständlich wahrgenommen“, erklärt Kita-Leiterin Edith Giere. Auch ihre Mitarbeiter kommen aus unterschiedlichen Kulturkreisen: Kolleginnen aus Baden-Württemberg gibt es, ebenso wie solche aus Polen oder Ecuador, und auch ein Erzieher mit türkischem Hintergrund gehört zum Team.
Das Mitgefühl anregen
„Wenn bei uns ein Kind beim Spielen ausgegrenzt wird, besprechen wir das mit allen Kindern der Gruppe, aber möglichst nicht in belehrendem Ton“, sagt Giere. Stattdessen nehmen die ErzieherInnen sogenannte Persona Dolls, lebensecht wirkende Stoffpuppen in Sven Kästner, freier Journalist, schreibt unter anderem über frühkindliche Bildung, aber auch über Ernährung, das Klima und
historische Themen Kleinkindgröße, zu Hilfe. „Die Puppe sitzt auf dem Schoß der Erzieherin und spricht mit den Kindern“, erläutert die Kita-Leiterin. „Sie klagt dann zum Beispiel: ‚Ich gehe nicht mehr gerne in die Kita, weil ich nicht mit den anderen Fußball spielen darf‘. Dann entwickeln die Kinder Empathie. Und es ist wichtig, dass sie selbst eine Lösung für das Problem finden.“ Auf diese Weise wird die Ausgrenzung thematisiert, ohne dass das betroffene Kind als Opfer im Mittelpunkt steht.
Großen Wert wird in der Einrichtung auf die Auswahl der Kinderbücher gelegt: „Wenn das Lebensumfeld mancher Kinder nie in Büchern vorkommt, fühlen diese sich nicht richtig“, erklärt die Erzieherin Ilka Wagner – ein schlechtes Signal für die Entwicklung des Selbstbewusstseins. Kita-Leiterin Giere weist außerdem darauf hin, dass sich auch ErzieherInnen und Eltern beim Thema Vorurteile immer wieder hinterfragen müssen. Auch sie sollten sich nicht vertrauten Lebenswelten öffnen. „Vorurteile
haben ja nicht nur die anderen, sondern die hat man auch selbst.“
Wie verhalte ich mich richtig?
Wenn Ihr Kind diskriminierende Formulierungen austestet, kommt es auf Ihre Reaktion an:
- Machen Sie Ihrem Kind klar, dass es mit seinem Vorurteil falsch liegt. Leugnen Sie dabei nicht die Unterschiede zwischen Menschen, sondern erklären Sie diese mit respektvollen Worten.
- Versuchen Sie herauszufinden, welcher Konflikt wirklich hinter der Ablehnung, etwa gegenüber einem anderen Kind, steckt. Das Kind, das ausgegrenzt wird, braucht Ihren Zuspruch.
- Fördern Sie ein offenes Weltbild Ihres Kindes, zum Beispiel durch Kinderbücher, die nicht nur hellhäutige Mittelschichtsfamilien zeigen.