Alice, unsere Tochter singt. „Nanenu, da steht ein Strauch. Das Kamel kann naschen.“ Ich lausche. Seit wir die befestigten Wege hinter uns gelassen haben, sprudeln Songs aus der Dreijährigen. Sie sitzt vor mir auf dem Rücken des Dromedars und verpackt neue Eindrücke in Texte und Melodien. Der auffrischende Wind bläst Sandkörner über die Dünenkämme. Es ist der Moment, in dem ich zum ersten Mal durchatme. Nach nervenaufreibenden 3000 Flug-, 700 Schienen-, 360 Bus- und 100 Taxikilometern öffnen sich meine Augen und Ohren für die Schönheit der Wüste. Die Marokkaner sagen: „Der Kameltreiber hat seine Pläne, das Kamel hat seine.“ Das Sprichwort beschreibt ziemlich genau die Lektion, die unsere Familie hier lernen muss.
Achterbahn des Schreckens
Es ist unsere erste Fernreise. Alice ist mit drei Jahren aus dem Gröbsten raus. Wir Eltern wittern die Chance auf Abenteuer. Wandern in der Sahara und Sterne deuten mit den Nomaden? Klar! Weil ich im sechsten Monat schwanger bin, dürfen wir nicht zögern. Die Flüge sind schnell gebucht. Die Wüstentour zu organisieren, ist dagegen schwieriger. Sobald Reiseagenturen die Worte „Kleinkind“ und „schwanger“ hören, schmettern sie unsere Anfragen ab. Auch die Vorsitzende der Agentur Renard Bleu Touareg warnt uns vor Durchfällen und Sonnenstichen, bevor sie uns ein Angebot schickt.
Vor der Busfahrt über den Hohen Atlas warnt uns keiner. Eben kritzelt unsere Tochter gut gelaunt in ihr Malbuch. Ein Dutzend Haarnadelkurven später sinkt Alice zu einem schlaffen Häufchen zusammen. Der Kakao vom Frühstück verteilt sich über meine Bluse, das Shirt meines Mannes, die Kameratasche. Ich versuche, Alice’ Kopf zu stützen und gleichzeitig mit klebrigen Fingern eine Tüte aus der Tasche zu fummeln. Der Bus zwingt den entgegenkommenden Peugeot hupend in die Eisen. In Marokko hat Vorfahrt, wer das größere Fahrzeug steuert. Busse stehen ganz oben in der Nahrungskette.
Die Mitreisenden reichen Feuchttücher. Ein junger Mann beruhigt uns: „In einer Viertelstunde machen wir Pause.“ Der Bus frisst Höhenmeter. Das Dorf Taddert, endlich! Wir halten neben einem Bistro. Alice ist eingeschlafen oder ohnmächtig. Ich muss sie schütteln, damit sie die Augen aufschlägt. Nichts fühlt sich verräterischer an, als das Kind nach der Pause zurück in den Bus zu führen. Das Szenario wiederholt sich. Die Route verläuft über die Stadt Ouarzazate bis ins Dorf Tizergate, kurz vor Zagora. Bei unserer Ankunft im Gästehaus haucht Alice mit schwacher Stimme: „Ich will nach Hause.“
Mit einem Nomaden durch die Wüste
Alice reitet auf dem Dromedar und dichtet: „Die Männer mit den schwarzen Tüchern geh’n in die Welt.“ Bei den Besungenen handelt es sich um Mubarak und Abdul, zwei Nomaden vom Stamm der Nouaji. Sie sind in Chechs gehüllt, traditionelle Schleier. Dass sie in die Welt gehen, trifft zweifellos zu. Aber wie machen sie das in unserem technisierten Zeitalter? Am liebsten würde ich sie selbst fragen, aber Mubarak und Abdul sprechen Hassania, einen altarabischen Dialekt. Unsere Kommunikation beschränkt sich auf die Suche nach Feuerholz und die Einladung zum Tee. Antworten erhalte ich von einem anderen Nouaji-Mann: Abdisalam Naji. Im Gästehaus sitze ich dem Marokkaner mit dem breiten Lächeln gegenüber. „Ich bin selbst in der Wüste aufgewachsen“, erzählt er stolz. Heute arbeitet der Ex-Nomade für den Verein Azalay, der sich für den Erhalt nomadischer Lebensformen einsetzt. „Zu unserem Stamm zählen 3000 Leute. Aber nur wenige Nouaji können umherziehen und Handel treiben. Die Grenze zu Algerien ist geschlossen. Die Tiere sterben durch die Dürre. Die meisten von uns mussten sesshaft werden.“
Eineinhalb Wandertage südlich der Stadt M’Hamid sitze ich neben Ehemann und Tochter auf dem Hintern und buddle. Die Sonne brennt in meinen Nacken. Hinter einer Düne schnaubt ein Dromedar. Herrlich! „Mama, Papa, sollen wir da hochrennen?“ Alice zeigt
auf eine Düne. Wir stürmen los. Nach dem Spielen kehren wir ins Lager zurück, schwitzend, in den Schuhen kiloweise Sand.
Wenn die Nomaden das Zeltlager für die Nacht errichten, suchen wir Feuerholz. Mubarak stellt eine Kanne mit Wasser in die Glut. Der marokkanische Minztee, selbst hier im Nirgendwo wird er uns viermal täglich serviert. Die Versorgung mit Speisen bleibt für mich ein Geheimnis. Abdul zaubert Drei-Gänge-Menüs aus dem Nichts. Das Essen schmeckt, als hätte er es in einer Tajine aus feinster Keramik, nicht in einem ollen Aluminiumtopf, gegart. Wir sitzen mit vollen Bäuchen am knisternden Feuer. Alice schlummert selig in meinem Schoß.
Chaos der Rückreise
Dass wir so tolle Tage in der Wüste verbringen würden, daran hatten wir am Anfang nicht geglaubt. Nach der Busfahrt im Gästehaus angekommen, wollten wir abreisen. Alice hörte nicht auf, sich zu erbrechen. Im Krankenhaus verschrieben sie ihr Antibiotika. Mein Mann wälzte Landkarten, rechnete aus, wie lange es dauert, das Gebirge zu umfahren. Bei Spaziergängen durch
Palmenhaine, Minztee und Mensch ärgere Dich nicht erholte sich Alice. Wir blieben. Jetzt, nach der Wüstentour, brauchen wir eine Alternative zum Bus: „Ein Mietauto?“ Mein Mann runzelt die Stirn. „Warum kein Taxi?“ Ich schüttle den Kopf: „Du hast erlebt, wie die fahren.“ Er organisiert einen Geländewagen. Ich will mich hinters Lenkrad klemmen, aber da klemmt ein anderer.
Wagen werden in Marokko mit Fahrern vermietet. Natürlich hat unser Chauffeur einen Bleifuß. Wir verlassen ihn in Ouarzazate. Das Problem: Am nächsten Abend startet das Flugzeug ab Casablanca. Dazwischen liegen 440 Kilometer und der Hohe Atlas. Der Inlandsflug ist ausgebucht. Uns bleibt nur die Hilfsbereitschaft der Marokkaner. Ein Teppichhändler hilft uns aus der Patsche.
„Hier“, er zeigt auf einen roten Berberteppich, „den verkaufe ich. Er fliegt, wenn ihr den richtigen Zauberspruch
aufsagt.“ Der Zauberspruch sei unverkäuflich. Dafür mobilisiert der Teppichhändler seine Verwandten, Freunde und Kollegen. Ergebnis: ein Mietauto, das wir selbst fahren dürfen, zu einem unschlagbaren Preis. Das finden wir fast so gut wie einen fliegenden Teppich! Zu später Stunde am Flughafen Casablanca schrickt Alice aus dem Schlaf: „Mama, Mama ich will ...“ Ich frage: „Nach Hause?“ „Nein, ins Gästehaus. Ich will noch mal Kamel reiten.“
kizz Reisetipp
- Beste Reisezeit: Im Frühling und Herbst ist es in der Wüste nicht so heiß.
- Anreise: Ab Frankfurt mit dem Flugzeug nach Marrakesch oder Casablanca. Statt mit dem Bus von Casablanca nach Ouarzazate fliegen oder ein Auto mieten.
- Unterkunft: Für Märchenstimmung sorgen traditionell gebaute Riads (Hinweise auf www.marokko-urlaub.com). Das Gästehaus Le Sauvage Noble nahe Zagora bietet einen idealen Ausgangspunkt für Wüsten-Touren (www.sauvage-noble.org).
- Renard Bleu Touareg: Die Agentur bietet Wüsten-Touren in Begleitung von Nomaden und Dromedaren, pro Tag etwa 90 Euro. Mit einem Teil der Einnahmen werden die Projekte des Azalay Vereins gefördert (www.azalay.de, www.renard-bleu-touareg.org).