Ich muss Sie leider enttäuschen: Ich kenne sie nicht, die zehn Erziehungsregeln mit Erfolgsgarantie. Und ich wage sogar zu behaupten, dass es sie nicht gibt. Die meterlangen Regale in Buchhandlungen, gefüllt mit Erziehungsratgebern, scheinen meine These zu untermauern. Regeln für die Kindererziehung sind stark abhängig von Kultur, Werten, persönlichen Gewohnheiten und können sich im Laufe der Zeit ändern. Ein klassisches Beispiel dafür ist die Debatte um die Frage, ob es richtig oder falsch ist, wenn Kinder nachts im Bett der Eltern schlafen. Meiner Überzeugung nach ist es nicht sinnvoll, allgemeingültige Regeln
aufstellen zu wollen. Viel wichtiger scheint mir, dass sich Eltern Gedanken darüber machen, was ihnen im Zusammenleben mit ihren Kindern und in der Gestaltung des Alltags besonders wichtig ist.
Was sollen unsere Regeln erreichen?
Wenn ich im Familienalltag eine Regel formuliere, ist für mich die entscheidende Frage, was ich mit ihr erreichen will. Es gibt nämlich durchaus Regeln, die uns unseren Erziehungszielen nicht näherbringen. Mir persönlich ist es wichtig, die Selbstständigkeit meiner Kinder zu stärken, damit sie lernen, selbst gute Entscheidungen zu treffen. Deshalb gilt bei uns zum Beispiel die Regel, dass die Kinder sich selbst anziehen müssen, sobald sie dazu in der Lage sind. Natürlich müssen wir das immer wieder üben und für mich bedeutet es auch, dass ich nur Kleider und Schuhe kaufe, die einfach anzuziehen sind. Mein Jüngster ist zwei Jahre alt und besitzt aus diesem Grund nur Turnschuhe mit Klettverschluss, die er mit großem Vergnügen selbst anzieht. Nach meiner Erfahrung sind Regeln, die auf Selbstständigkeit abzielen, unglaublich motivierend. Denn wir vermitteln unserem Kind: Ich traue dir zu, dass du das schaffst. Wichtig dabei ist, dass wir die Leistung des Kindes würdigen und nicht auf Perfektion beharren. Wie soll ein Kind zum Beispiel lernen, welcher Schuh an welchen Fuß passt, wenn es nicht mindestens
einmal entenfüßig in den Kindergarten gewatschelt ist?
Es gibt aber auch Regeln, die nur darauf abzielen, das Verhalten der Kinder zu kontrollieren. Mir scheint, dass dahinter meist sehr viel Angst steckt. Die Angst, die Kinder nicht im Griff zu haben. Die Angst, die Kinder könnten „falsche“ Entscheidungen treffen. Die Angst, man könnte sich als Eltern blamieren. Die Angst, dass nicht alles nach Plan läuft (nach unserem Plan, wohlgemerkt). Was bedeutet es zum Beispiel, wenn in einer Familie die Regel gilt, dass allein die Eltern allmorgendlich entscheiden, welche Kleider ihr Kind anzieht? Ich behaupte, dass hier allzu wilde Farbkombinationen, seltsame
Modestatements, bestürzte Reaktionen anderer Eltern und Erkältungen (weil sich das Kind sicher gegen die Thermounterwäsche entscheidet) unbedingt vermieden werden sollen. Was lernt aber das Kind daraus? Dass es zu klein, zu unfähig und zu unwichtig
ist, um mitreden oder etwas selbst bestimmen zu können. Ich plädiere nicht dafür, dass Kinder alles selbst entscheiden dürfen (ganz und gar nicht!), aber ich plädiere für Wahlmöglichkeiten innerhalb bestimmter Grenzen.
Wenn Regeln auf Selbständigkeit abzielen, heißt das auch noch lange nicht, dass unsere Kinder diese stets als positiv erleben. Aber sie spüren sehr genau, welche Absicht dahinter steckt und ob es uns nur um unsere Autorität geht oder um sie. Eines von meinen Kindern durchlebt zum Beispiel immer mal wieder eine „unsoziale“ Phase und weigert sich, Besucher zu
begrüßen, obwohl unsere Familienregel zumindest ein halblaut gemurmeltes „Hallo“ verlangt. Ich kann nun meinem Kind sagen: „Du begrüßt jetzt sofort die nette Frau Müller von nebenan!“ – denn schließlich bin ich hier der Chef und bestimme, wo es langgeht. Oder ich kann – am besten nicht in Gegenwart der netten Frau Müller – erklären, dass Anstandsregeln das Leben ungemein erleichtern, ein Ausdruck von Respekt sind und ich überzeugt bin, dass mein Kind es schafft, die Dame zu begrüßen. Die Regel ist die gleiche, die Absicht dahinter eine andere.
Was ist mir wirklich wichtig?
Wenn wir von Regeln sprechen, denken wir oft vor allem an Verbote. Regeln können aber auch positive Rituale sein, die man als Familie pflegt. Solche schönen Gewohnheiten schaffen Sicherheit und Geborgenheit und stärken das Zusammengehörigkeitsgefühl. In unserer Familie pflegen wir zum Beispiel das Ritual, uns von Zeit zu Zeit zu sagen, was wir aneinander mögen. Durch solche Gespräche schaffen wir eine wertschätzende Atmosphäre, die meinem Mann und mir sehr wichtig ist. Ein anderes schönes Ritual haben die Kinder selbst ins Leben gerufen: An verregneten Mittwochnachmittagen dürfen sie ganz alleine und ohne Rezepte Kuchen backen. Manchmal landet ein Ei auf dem Boden, manchmal stimmt das Verhältnis der einzelnen Zutaten überhaupt nicht – meist zugunsten des Zuckers –, manchmal ist das Resultat nicht als Kuchen erkennbar. Aber in den meisten Fällen sind ihre Backversuche ziemlich erfolgreich und den besten Schokoladenkuchen, den ich jemals gegessen habe, findet man in keinem Rezeptbuch und er kann bedauerlicherweise auch nie wieder fabriziert werden.
kizz Elterntipp
Wenn Kinder sich nicht an die Regeln halten
Regeln positiv formulieren: Kinder reagieren ganz anders auf Aufforderungen, wenn diese positiv formuliert werden. Der Satz
„Sobald ihr das Zimmer aufgeräumt habt, können wir noch ein Bilderbuch anschauen“, spornt zum Mitmachen an. Wenn Eltern ihre Wünsche dagegen als Drohung aussprechen und sagen „Wenn ihr nicht sofort das Zimmer aufräumt, schauen wir kein Bilderbuch mehr an!“, wirkt das demotivierend.
Logische Konsequenzen statt Strafen: Eine
logische Konsequenz ergibt sich aus dem
Verhalten des Kindes und steht mit ihm in
direktem Zusammenhang. Ein Beispiel:
Jonas und seine Mutter wollen am Nachmittag
erst einkaufen und dann auf den
Spielplatz gehen. Als die Mutter von zu
Hause aufbrechen will, zieht sich der
Junge auch nach mehrfacher Aufforderung nicht an. Seine Mutter kündigt eine logische Konsequenz an. „Jonas, wenn wir nicht bald einkaufen gehen, haben wir hinterher keine Zeit mehr für den Spielplatz.“
Kindern Zeit lassen und nicht immer sofort reagieren: Wenn Eltern Kinder auf einen Regelverstoß aufmerksam machen, mündet
das manchmal in einen Machtkampf. Oft hilft es, dem Kind etwas Zeit zu geben. Ein Beispiel: Laura kommt müde aus dem Kindergarten und lässt ihre Jacke im Flur fallen anstatt sie an den Haken zu hängen. Ihr Vater weiß, dass sie schnell wütend reagiert, wenn er in einer solchen Situation sofortige Pflichterfüllung verlangt. Er kann damit leben, dass die Jacke erst mal dort liegen bleibt und erinnert sie vor dem Essen daran, sie aufzuhängen, was sie ohne Murren erledigt.
kizz sprach mit Jochen Leucht, Systemischer Familientherapeut sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut
„Kinder haben Freude daran, mitzuwirken!“
Was steckt dahinter, wenn Kinder sich beklagen, dass Eltern immer die „Bestimmer“ sind?
Eine solche Klage sollte Eltern einerseits dazu veranlassen, ihren Erziehungsstil zu überprüfen: Ist es an der Zeit, den Kindern mehr Mitbestimmungsrecht einzuräumen? Anderseits kann sie auch die Unlust der Kinder ausdrücken, sich mit den Folgen
der Familienregeln auseinanderzusetzen. In diesem Fall helfen Erklärungen und eine konsequente Erziehungshaltung.
Sollen Eltern und Kinder Familienregeln gemeinsam beschließen? Halten Kinder sich dann eher daran?
Natürlich sind Eltern für die Familienregeln verantwortlich und müssen die Richtung vorgeben. Allerdings sollten sie ihre Kinder so oft wie möglich einbeziehen. Kinder haben Freude daran, mitzuwirken! Und wenn ihre Wünsche und Bedürfnisse
altersangemessen respektiert werden, sind sie auch viel eher bereit, sich an Regeln zu halten.
Wie kann Mitbestimmung konkret aussehen?
Kinder können mit ihren Eltern über die Formulierung einer Familienregel diskutieren, über Ausnahmen und darüber, ob eine Regel noch gebraucht wird. Lassen Sie die Kinder die Regeln aufschreiben oder das Blatt mit den Regeln anmalen. Kinder überwachen auch gerne die Einhaltung und weisen die Erwachsenen darauf hin, wenn sie eine Regel missachten. Leider vergessen
Eltern viel zu oft zu fragen, ob die Kinder alternative Lösungsvorschläge anstelle einer Regel haben.