Mein Sohn ist ganz aufgeregt. „Mama, ich kann fühlen, wie die Erde sich dreht!“, schreit er. Gerade noch hat er sich im Wohnzimmer schnell im Kreis gedreht und mit einem Plumps auf die Couch fallen lassen. Jetzt herrscht Schwindel im Kopf. Und Erkenntnis-Explosion. In diesem Fall zwar naturwissenschaftlich nicht ganz korrekt, aber was soll’s! Die Lust an der Bewegung, am wilden Experimentieren mit Körper und Sinnen ist unseren Kindern buchstäblich in die Wiege gelegt. Längst sind Wissenschaftler sich einig, dass nichts die Synapsen, die Muskeln, den Intellekt und die Persönlichkeit so umfassend stimuliert wie körperliche Aktivität. Kinder wollen rennen, hüpfen, klettern. Sie wollen ihre Kraft erproben und sich und ihre Umwelt
spielerisch kennenlernen. Wieso aber tun sie es immer seltener?
Sybille Bierögel ist ausgebildete Erzieherin und Autorin zahlreicher Fachbücher zum Thema Kinderturnen. Die 47-Jährige beobachtet den grassierenden Bewegungsmangel schon lange. „Ich erlebe immer wieder, dass Kinder mit einfachsten Bewegungsformen wie Rückwärtsgehen Schwierigkeiten haben.“ Obwohl die Wohnungen in den letzten Jahrzehnten größer geworden sind, obwohl es Spielplätze gibt und in vielen Gärten ein Trampolin steht, sitzen die Kinder mehr denn je: „Sie werden zu Hause vor dem Fernseher oder dem Computer geparkt – oder mit dem Auto von A nach B gefahren.“ Sind also mal wieder die Eltern schuld?
Bierögel sieht das differenzierter: „Ich glaube, dass die Belastung in vielen Familien gestiegen ist. Oft sind beide berufstätig.“ Und gestresste Erwachsene haben nicht immer die Zeit oder Muße, mit den Kindern stundenlang bei jedem Wetter vor die Tür zu gehen. Umso wichtiger ist es, die eigene Bequemlichkeit gelegentlich trotzdem zu überwinden. Wege gemeinsam zu Fuß gehen oder mit dem Fahrrad oder Roller zu fahren. „Man sollte das Auto stehen lassen und lieber die Treppen als den Fahrstuhl nehmen“, rät Bierögel. Teure Anschaffungen dagegen hält sie für unnötig. „Eltern müssen keine ‚Bewegungswelten‘ schaffen.“ Lieber im durchgeplanten Alltag für Freiräume sorgen, in denen nach Herzenslust gespielt und getobt werden darf.
Bewegt von klein auf
„Für Kinder ist Bewegung das Mittel überhaupt, um die Welt zu begreifen“, erklärt Monika Fikus, Professorin für Sportwissenschaft an der Universität Bremen. „Wenn Erwachsene etwas sehen, können sie es intellektuell verarbeiten, weil sie auf Wissen und Erfahrungswerte zurückgreifen.“ Kinder müssen mit den Dingen interagieren, um sie zu verstehen. Beim Bewegen
erfahren sie Neues über sich und ihre Umwelt: Warum rollt der Ball den Hügel hinunter, und warum bleibt der Klotz liegen? „Wenn man eine Treppe hochsteigt, übt man nicht nur Stufen zu erklimmen, es ergeben sich auch neue Perspektiven“, sagt Fikus. Wer nur geschoben, getragen oder im Auto transportiert wird, hat keine Chance, eine eigene Beziehung zu seiner Lebenswelt aufzubauen. „Es fehlt an Zumutungen.“ Dabei wünschen sich Kinder, dass man ihnen etwas zutraut. „Kinder wollen über sich hinauswachsen“, sagt Fikus. Mit organisiertem Sport hat das in jungen Jahren noch nichts zu tun. Es geht nicht um Trainingspläne oder -einheiten für die Kleinsten. „Es geht um Qualität. Um Bewegung, die Wahrnehmung vermittelt.“
Bewegungsdrang nicht ausbremsen
Nicht immer ist der Spielplatz der richtige Ort dafür. Der Landschaftsarchitekt Markus Brand, der mit dem Verein Ideenwerkstatt Lebens(t)raum für Kindergärten und Kommunen naturnahe Spielräume plant und gestaltet, versteht gut, warum sich Kinder auf Spielplätzen oft langweilen. „Früher war es normal, dass Kinder draußen gespielt haben und dass sie eine anregende, auch eine motorisch herausfordernde Umgebung hatten.“ Es gab Bäume zum Klettern, Gebüsche zum Verstecken, Spielstraßen, auf denen man Fangen oder Räuber und Gendarm spielen konnte. Auch wenn die Qualität tendenziell steigt, gibt es viele Spielplätze, die aus flachen Rasenflächen mit vereinzelten Spielelementen bestehen. „Aber welches Kind will jeden Tag einen Kletterturm erklimmen und dann herunterrutschen?“ Ein Spielgelände sollte variabel sein und der natürlichen Neugier Raum lassen. Den Kindern fehle heute oft die altersgerechte Herausforderung, sagt Brand. „Auch viele Kindergärten haben nur Geräte für Ein- bis Dreijährige, aber kaum etwas für die Sechsjährigen.“ Dazu kommt die Sorge und Überbehütung der Eltern. Sie bremsen den unbändigen Bewegungsdrang der Kinder, weil sie Angst haben, der Nachwuchs könne stolpern, stürzen, sich verletzen. Brand plädiert für mehr Gelassenheit. „Eltern sollten sich erinnern, wie sie selbst als Kinder gespielt haben.“ Dazu gehört nicht nur Kleidung, die dreckig werden darf. Sondern auch eine Portion Selbstbestimmtheit. „Wir denken immer, Lernen funktioniert über Förderung“, sagt Brand, „aber das ist Quatsch. Ein entspanntes Kind, das viel draußen spielt, lernt permanent.“
Und zwar nicht nur, dass die Erde sich dreht. Sondern auch, dass man seine Pirouetten im Wohnzimmer gut koordinieren muss, um beim finalen Sprung auch wirklich auf der weichen Couch zu landen.
kizz Elterntipp
Bewegtes Leben
Gemeinsam aktiv werden. Kinder lieben es, gemeinsam mit ihren Eltern herumzutollen. Kissenschlacht, Wettlauf und Ringkampf bringen Bewegung in den Alltag. Nutzen Sie die gemeinsame Freizeit für kleine Wander- und Fahrradtouren, Ausfl üge ins Schwimmbad oder in den Park zum Fußballspielen.
Die Natur ist der beste Sportplatz. Daher heißt es immer wieder: rauf auf die Hügel und Bäume, rein in die Gebüsche und Bäche. Drinnen sorgt eine kindersichere Wohnung mit freien Flächen zum Krabbeln, Toben und Tanzen für Bewegungsfreiheit.
Vorbild sein. Kinder sind grandiose Beobachter: Wie kommen Sie zur Arbeit oder zum Einkaufen, welchen Hobbys gehen Sie nach? Ihre Freude an Bewegung wirkt ansteckend!