Daniels Vater ist gewalttätig, Mathildas Mutter ist alkoholkrank und Samuel wächst im Heim auf. Kein guter Start für alle drei, mit Folgen für das ganze Leben, möchte man meinen. Und doch entwickelt sich Samuel körperlich und emotional gesund, schließt Freundschaften, erlernt einen Beruf und geht mit einer verantwortungsvollen Einstellung durchs Leben.
Woran liegt es, dass die einen Kinder schlimme Erfahrungen gut wegstecken und die anderen daran zerbrechen? Wissenschaftler sprechen in diesem Zusammenhang von Resilienz. „Darunter versteht man die seelische Widerstandskraft von Menschen bei Krisen
und Belastungen, aber auch bei der Bewältigung von besonderen Herausforderungen“, erklärt Klaus Fröhlich-Gildhoff, Leiter des Zentrums für Kinder- und Jugendforschung an der Evangelischen Hochschule Freiburg (ZfKJ).
Die Kraft, die Krisen überwinden hilft
Die ersten Erkenntnisse dazu lieferte die US-amerikanische Entwicklungspsychologin Emmi Werner. In ihrer berühmten Pionierstudie begleitete sie über vier Jahrzehnte hinweg Kinder, die 1955 auf der Hawaii-Insel Kauai zur Welt gekommen waren. Ein Teil von ihnen wuchs unter äußerst schwierigen Bedingungen auf. Trotz dieser Benachteiligung entwickelte sich ein Drittel
dieser Kinder gut.
Ganz offensichtlich können Kinder schlechte Ausgangsbedingungen ausgleichen. Oder anders ausgedrückt: Nicht nur die Herkunft oder ökonomische Sicherheit entscheiden darüber, wie man sein Leben gestaltet, sondern auch die psychische Widerstandskraft. Diese Erkenntnis ist durchaus neu und wichtig, glaubte man doch lange Zeit, dass eine unglückliche und belastende Kindheit die Weichen für das gesamte Leben stellt.
Inzwischen geht man davon aus, dass Resilienz nicht nur in Extremsituationen, etwa bei der Überwindung schwerer Traumata, von Vorteil ist (siehe auch Interview). Resiliente Kinder verkraften auch alltägliche Probleme und Stresssituationen besser, also etwa den Umzug in eine neue Stadt, einen Schulwechsel oder den Tod des Haustieres.
Resilienz entwickelt sich schrittweise
Entgegen früherer Annahmen ist die seelische Widerstandkraft kein vererbtes „Talent“, sondern eine „Fähigkeit, die man im Lauf des Lebens erwirbt“, sagt Fröhlich-Gildhoff. Es gibt allerdings Schlüsselfaktoren, welche die Entwicklung dieser Fähigkeit begünstigen. Entscheidend ist, das weiß man heute, dass Kinder eine enge emotionale Beziehung zu mindestens einer Person in ihrem Umfeld haben. Das muss nicht zwangsläufig der Vater oder die Mutter sein. Auch die Nachbarin, die Erzieherin oder der Grundschullehrer können diese Rolle einnehmen.
Neben diesem „äußeren“ Schutzfaktor gibt es noch ein ganzes Bündel anderer Faktoren oder Kompetenzen, die Kinder stark machen. Etwa die Fähigkeit, Gefühle gut wahrzunehmen und mit ihnen umzugehen – eigene, aber auch die des Gegenübers. Soziale
Kompetenz spielt eine Rolle, aber auch die Selbstwirksamkeit, also die Überzeugung: Mein Handeln bewirkt etwas. Des Weiteren das Vermögen, sich zu beruhigen, wenn die Emotionen überkochen (Selbstregulation), oder einen kühlen Kopf zu bewahren, wenn Probleme oder Hindernisse auftauchen (Stressbewältigung). „All diese sogenannten personennahen Faktoren lassen sich fördern und verändern“, sagt Fröhlich-Gildhoff. Der Psychologe und Psychotherapeut beschäftigt sich seit Längerem damit, wie man Resilienz im Alltag fördern kann. Er hat Bücher zum Thema geschrieben und pädagogische Konzepte entwickelt, für Eltern, Kindertageseinrichtungen und für Schulen. Etwa 200 Kitas deutschlandweit arbeiten damit. „Viele Dinge, die ganz selbstverständlich anmuten, bekommen eine neue Bedeutung, wenn man sie unter dem Blickwinkel der Resilienzförderung betrachtet“, sagt Fröhlich-Gildhoff.
So heben die meisten Eltern ihr Kind, das hingefallen ist und weint, hoch, trösten es und kleben vielleicht ein Pflaster auf das Knie. Dabei erteilen sie ihm unbewusst eine erste Lektion in Sachen Selbstregulierung: Wenn es weh tut, hilft darüber reden und ein Pflaster. Eine Reaktion wie „Stell dich nicht so an, das ist gar nicht schlimm“ hingegen negiert nicht nur das Empfinden des Kindes, sondern eröffnet ihm auch keine Möglichkeiten, Strategien zu entwickeln, die seine Situation verbessern
können.
Herausforderungen annehmen
Selbstständig Probleme lösen, nicht aufgeben, wenn einmal etwas nicht klappt, das zeichnet psychisch starke Kinder aus. Wie kann man das trainieren? Auf keinen Fall, indem man den Kindern so viel wie möglich abnimmt. „Grundschulkinder, die mit dem Auto zur Schule gefahren werden – absurd“, urteilt Fröhlich-Gildhoff. „Kinder brauchen Herausforderungen, die sie nicht über-, aber auch nicht unterfordern“. Ideal sei es, wenn die zu meisternde Aufgabe dem Kind ein kleines bisschen mehr abverlangt, als es bisher konnte.
Wichtig ist, dass Erwachsene Kinder bei solchen Erfahrungen nicht bremsen und entmutigen, sondern ermuntern und begleiten. Insbesondere ängstliche oder zurückhaltende Kinder brauchen hier Unterstützung. Wer sich wenig traut, dem hilft vielleicht ein Talisman, ein „Mutstein“, den man anmalen kann und der in schwierigen Situationen Halt gibt. Sätze wie „Das wird eh nichts“ verbieten sich von selbst. Hilfreich ist es hingegen, Rückmeldungen zu geben: „Wie hast du es geschafft, ganz allein auf den Baum zu klettern?“ Oder: „Was könnte dir helfen, auf den Baum zu klettern?“ „So wächst bei Kindern Schritt für Schritt die
Überzeugung: Da ist eine Herausforderung, aber ich kann damit umgehen“, sagt Fröhlich-Gildhoff. Und das ist der Grundgedanke von Resilienz.
kizz Interview
Splitter in der Seele
kizz sprach mit Kathrin Reiter, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und angehende Traumatherapeutin. In der Trauma-Ambulanz der Charité Berlin behandelt sie Kinder und Jugendliche, die Opfer oder Zeuge von Gewalttaten geworden sind
Warum ist es so wichtig, dass Kinder nach einer Gewalterfahrung schnell psychologische Hilfe bekommen?
Ein Trauma ist eine psychische Wunde, ein Splitter in der Seele, hervorgerufen durch ein unerwartetes und plötzliches Ereignis. Meine Patienten haben beispielsweise einen Überfall erlebt, den gewaltsamen Tod eines Menschen mitangesehen oder sind Zeuge häuslicher Gewalt geworden. Es ist normal, dass sie darauf reagieren. Wenn die Symptome jedoch nach vier bis sechs Wochen nicht abklingen, rate ich Eltern, sich Unterstützung zu holen, da sich sonst Anpassungs- oder posttraumatische Belastungsstörungen entwickeln können.
Was sind das für Symptome?
Manche Kinder ziehen sich zurück oder klammern extrem, schlafen schlecht oder sind sehr unruhig. Manche fangen auch an, wieder am Daumen zu lutschen oder einzunässen.
Was können Eltern tun?
Für einen sicheren Rückzugsort sorgen. Nach einem traumatischen Erlebnis erscheint die Welt plötzlich gewaltsam, bedrohlich und unsicher. Am wichtigsten ist es, mit den Kindern über das Geschehene zu sprechen. Der Vorfall sollte allerdings kein
detailliertes und von allen Seiten beleuchtetes Ereignis werden. Vielmehr hilft es den Kindern, wenn man ihnen kurze und klare Antworten auf ihre Fragen gibt.
Was, wenn die Kinder nicht reden wollen?
Kinder können sich auch ohne Worte ausdrücken. Ich habe eine kleine Patientin, die miterleben musste, wie während des Urlaubs in der Ferienwohnung eingebrochen wurde. Sie hat diese Situation immer mit Puppen und Bauklötzen nachgespielt. Wir haben dann zusammen mit der Mutter eine Mauer um das Haus gebaut, sodass die Diebe nicht mehr eindringen konnten. Die Mutter hat immer wieder gesagt: „Jetzt bist du in Sicherheit. Jetzt kann dir nichts mehr passieren! Ich passe auf dich auf!“ Im Spiel kann das Kind der Tragödie eine gute Wendung geben und so die Geschehnisse aufarbeiten.
Können kindliche Traumata heilen?
Ja. Wenn man einen Splitter entfernt, tut das weh. Aber danach heilt die Wunde ab. Wenn es dem Kind möglich ist, an das Ereignis zu denken und darüber zu sprechen, ohne von heftigen Gefühlen übermannt zu werden, ist das Trauma verarbeitet.