Manchmal ist die Sache ganz einfach. Schwarz – weiß, falsch – richtig. Vor uns in der Supermarktschlange nuckelt ein Kleinkind zufrieden an einem dieser Getränketütchen, die ich derzeit dauernd und überall sehe. 100 Gramm Bio-Fruchtpüree, außen herum aber reichlich Plastik, für 99 Cent das Stück. Hallo, geht’s noch, liebe Öko-Eltern? Ich muss nicht lange überlegen, was
ich auf das Gequengel meines Kindes antworte. Nein, kaufe ich nicht, kriegst du nicht und wirst du von mir nie kriegen. Nicht, solange du Zähne hast, die in unverpackte Apfelschnitze beißen können!
Da ist er mal wieder, mein Bauch. Gelegentlich neigt er zum Aufbrausen, meist aber ist er ein ganz einfühlsamer Geselle. Im Alltag hilft er mir ständig, nicht nur im Umgang mit Kindern. Neulich, als eine sonst sehr zurückhaltende Kindergarten-Mama mich auf dem gemeinsamen Heimweg angesprochen und spontan eingeladen hat, da sagte mein Bauch: Du hast vielleicht gerade keine Lust, Small Talk mit einer Fremden zu machen. Aber für diese Mutter, die noch nicht lange in Deutschland lebt, bedeutet der Kontaktversuch vermutlich viel. Also: Brüskier sie nicht! Ich ging mit, trank einen Tee, ließ mir ein Stück Kuchen aufzwängen und erfuhr dabei, dass die Familie aus Armenien stammt. Danke, lieber Bauch, dieser Nachmittag wäre mir ohne dich entgangen.
Authentisch handeln durch den Bauch
Doch was ist das überhaupt, das da aus der Körpermitte zu mir spricht? Das täglich bei Dutzenden Entscheidungen den Ausschlag gibt, ob ich hü oder hott sage, ob ich erlaube oder verbiete, ob ich amüsiert bin oder verärgert? In Jesper Juuls Buch 4 Werte, die Kinder ein Leben lang tragen (GU Verlag, 2014) kommt das Wort Bauchgefühl zwar nicht vor, aber dafür das Konzept der Authentizität. „Handeln wir authentisch, fühlt sich das für uns selbst und unsere Kinder ganz anders an, als wenn wir Rollen spielen, zum Beispiel die des verständnisvollen Vaters oder die der konsequenten Mutter“, schreibt der dänische Familientherapeut. „Sind wir wirklich ‚echt‘ in unseren Reaktionen und Handlungen, ist das nicht nur für uns selbst viel gesünder, sondern wir stellen gleichzeitig hervorragende Rollenmodelle für unsere Kinder dar.“
Klingt in der Theorie sehr plausibel – bei sich selbst bleiben, auch mal Nein sagen, auch mal eigene Belastungsgrenzen aufzeigen. Aber was tun, wenn meine authentische Bauchreaktion jeden Tag zum gleichen Ärger und Geschrei führt? Wenn mein Bauch sagt: Du musst Zähne putzen, bevor du ins Bett gehst, das Kind aber dennoch ein riesiges Theater macht? Oder wenn der Bauch irrational reagieren will, während der kühle Kopf sagt: Das Kind ist im Kindergarten gut aufgehoben, auch wenn es manchmal beim morgendlichen Abschied herzzerreißend weint. Oder wenn mein mütterlicher Bauch etwas ganz anderes sagt als der Bauch von Papa?
Andrea Jacobshagen, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und selbst vierfache Mutter, kennt solche Konflikte. Sie erlebt in ihrer Praxis oft Eltern, die reflektiert und belesen sind – und trotzdem zutiefst verunsichert im Umgang mit den eigenen Kindern. Auch sie rät dann oft, dem Bauchgefühl zu vertrauen. Zwar sei das streng genommen kein therapeutischer Begriff, aber man könne Bauchgefühl „als Summe unserer Erfahrungen umschreiben“, sagt sie. „Intuitiv verhalten wir uns oft so, wie wir es selbst am Modell unserer Eltern gelernt haben.“ Dieses erlernte Wissen kommt automatisch aus uns heraus. Manchmal sogar gegen unseren Willen. Dann hören wir quasi die Großeltern oder Urgroßeltern durch uns sprechen. Jacobshagen erklärt, woran das liegt: „Mit kleinen Kindern kann man nicht lange nachdenken, die Reaktionen müssen schnell und unmittelbar kommen.“ Oft funktioniert das sehr gut, aber manchmal eben nicht. „Zum Beispiel, wenn das Kind etwas in uns antriggert.“ Wenn der Nachwuchs mit einem bestimmten Verhalten seine Eltern zur Weißglut bringt und die Eltern wiederum auf die immer gleiche Weise
reagieren, obwohl die Situationen dadurch regelmäßig eskalieren. So können Muster entstehen, aus denen eine Familie manchmal nur mithilfe von außen herausfindet – sei es durch Freunde oder Therapeuten.
Erziehungsmuster hinterfragen
Mitunter vermeldet dann ausgerechnet der Bauch der Kinder, dass irgendetwas Fundamentales nicht stimmt. „Kinder haben ein sehr ausgeprägtes Bauchgefühl“, sagt Jacobshagen. „Wenn es ihnen schlecht geht, bekommen sie Bauchweh – auch wenn sie vielleicht gar nicht wissen, warum.“ Diese Zeichen sollte man ernst nehmen, empfiehlt die Therapeutin. Möglicherweise sind sie ein Indiz dafür, dass das intuitive Verhalten der Eltern in manchen Situationen überdacht werden muss. In der Therapie werden dann neue Reaktionsmöglichkeiten durchgespielt und eingeübt. „Aber das fällt oft schwer.“
Dass sich Mama und Papa untereinander manchmal nicht einig sind, findet Jacobshagen dagegen unproblematisch. „Das kann man auch mal stehen lassen. Die Kinder wissen ohnehin, dass die Eltern unterschiedlich sind.“ Wenn also Papas Bauch entscheidet, dass Schokolade nach dem Abendessen eine gute Idee ist, während Mamas Bauch sagt, für heute waren es wirklich genug Süßigkeiten – dann müssen das die Erwachsenen gefälligst miteinander klären. Und zwar so, wie es sich für authentische Rollenvorbilder gehört: nämlich fair und friedlich.
Das sagen Eltern
„Ich vertraue meinem Bauch nicht, denn der Bauch reagiert oft mit Emotionen, die nichts mit meinen Kindern zu tun haben. Wenn ich in Konfliktsituationen aus dem Bauch heraus handele, geht es normalerweise schief. Ich bin dann frustriert oder sogar wütend. Das passiert oft, wenn wir in Eile sind. In der konkreten Situation denke ich, dass ich recht damit habe, zu schimpfen oder so. Später denke ich, oje, das war nicht gut und eigentlich unfair. Ich überlege dann: Warum schreit mein Kind so? Warum ist es so frustriert? Was kann man von einem Kind in diesem Alter erwarten? Erwarte ich zu viel? Wenn ich zeitlich nicht gestresst bin, dann kann ich viel besser aus dem Bauch – oder eigentlich aus dem Kopf – handeln.“
„Mir sind Eltern suspekt, die immer knallhart bei ihrer Meinung bleiben – sogar ein wenig unheimlich. Natürlich merke ich gerade bei meinem kleinen Sohn, dass ich manchmal konsequent bleiben muss. Aber wirklich streng und unnachgiebig, das bin ich einfach nicht. Ich setze auf Dialog (nach dem Schreianfall) und bleibe freundlich. Gerade in letzter Zeit denke ich viel über meine Mutter nach und merke, dass ihre Erziehung wohl sehr ähnlich war. Sie sagte immer, sie wolle ihre Kinder in ‚Freiheit‘ erziehen. Und obwohl ich dieses große Wort selbst nie gebrauchen würde, führe ich vielleicht etwas weiter, was ich als Kind erlebt habe: Mitgefühl, Freude, und dass das Kind niemals fertiggemacht wird.“
„Ich vertraue meinem Bauchgefühl, wenn es um das Erlauben oder Verbieten von etwas geht – also bei Themen wie Fernsehkonsum oder Ernährung. Das beruht einerseits sicher auf meinen eigenen Erfahrungen als Kind, aber auch auf den gesellschaftlichen Werten meines sozialen Umfelds. Das merke ich auch daran, dass ich dort unsicherer bin, wo ich selbst keine Erfahrung habe und es scheinbar auch noch keine Norm gibt, an der ich mich orientieren kann, etwa bei Handy- oder Internetnutzung von Kindern. Hier fehlt mir das Bauchgefühl dafür, was angemessen ist und was nicht, und die Entscheidung ist dann auch bei meinen Kindern mühsamer durchzusetzen. In Konfliktsituationen verhalte ich mich oft anders, als ich das eigentlich will, aber das würde ich nicht ‚Bauchgefühl‘ nennen, sondern eher Affekt.“