FamilienurlaubWinter auf der Robbeninsel

Helgoland, ein Wintermärchen. Eine Familie entdeckt auf der Insel faszinierende Naturschauspiele und die Gastfreundschaft der Einheimischen

Winter auf der Robbeninsel
Helgoland bietet viele schöne Aktivitäten für Groß und Klein © Maria Dittmann

Hagelkörner prasseln auf unsere Gesichter. Egal, laufen wir eben rückwärts weiter. Vor – nein, hinter uns erstreckt sich die Düne, Helgolands Nachbarinsel. Bis zu den Robben ist es nicht weit. Alice, bald vier, trägt eine Sturmhaube. Merlinde, unsere Jüngste, schlummert im Kinderwagen. Die frische Seeluft macht eine Art Mini-Buddha aus ihr.

Der Schauer ist innerhalb von Sekunden vorüber. In dem grauen Wolkenturm über uns reißt ein Fenster auf. Goldene Strahlen ergießen sich zur Insel und tauchen Meer, Sand und Strandhafer in ein magisches Licht. „Ich sehe einen Regenbogen!“, brüllt Alice. Es ist der dritte in zwei Tagen.

Robben und andere Strandschätze

Über unsere erste Robbe stolpern wir buchstäblich. „Die planscht in einer Pfütze!“, lacht Alice, die mit ihren Gummistiefeln selbst keine auslässt. Das Tier ist braun gescheckt und genauso groß wie sie. Nur seine Zähne sind deutlich länger. „Das ist meine Pfütze!“, faucht es. Aber es könnte auch heißen: „Zieh die Stiefel aus, du machst mein Wohnzimmer dreckig!“

Einer, der die Sprache der Robben besser versteht, ist der Jagdschutzbeauftragte Rolf Blädel, auch bekannt als „Robbenflüsterer“. Der 63-Jährige hat den liebenswert rauen Charme eines Seebären. Als er uns zum Oststrand führt, scherzt er: „Junge Robben sind wie junge Menschen. Sie saufen und schlafen.“ Die massigen Leiber der älteren Tiere fläzen sich dicht an dicht; zwischen November und Februar kommen sie zu Hunderten auf die Düne, um ihren Nachwuchs zu gebären. „In diesem Winter waren es bis dato 246 Geburten*“, sagt Blädel. Zu seinen Aufgaben gehört es, die Jungtiere zu markieren. Er zeigt uns eine grüne Plastikkarte mit einer Nummer. „Die kriegen sie in die Hinterflosse.“ „Tut das nicht weh?“, wundert sich Alice. „Nee. In der Flossenhaut haben die so viel Gefühl wie du im Fingernagel.“ Blädel erklärt uns, dass die hiesigen Kegelrobben bei der Geburt zwölf Kilo wiegen. Pro Tag nehmen sie ein bis zwei Kilo zu. Ihr weißes Babyfell verlieren sie nach drei Wochen. Dann haben sie genug Speck auf den Rippen, um nicht zu frieren.

Inmitten rauer Romantik

Unter unseren Schuhen klicken Kiesel. Am Oststrand tritt das Steinwatt rund um Helgoland offen zutage. Ein Paradies für Mineralien- und Fossiliensammler. Auf der Welt gibt es nur hier roten Feuerstein. Alice interessiert sich mehr für rundgeschliffenes Glas. Ihre Schätze zeigt sie stolz der kleinen Schwester. „Nga!“, entfährt es Merlinde verzückt, als sie eine leere Krebsschere betastet. Auch den zentnerschweren Kreidestein und die Alge mit den fingerähnlichen Blättern wollen die Kinder mit nach Hause nehmen.

Als unsere Taschen aus allen Nähten platzen und Merlinde eine Stillpause braucht, setzen wir zur Hauptinsel über. In einem Café wärmen wir uns auf. Ich genieße Friesentee mit Kandis, mein Mann probiert den original Helgoländer Eiergrog.

Im Winter sind Helgolands Wege leergefegt, viele der bunten Hummerbuden und Duty-free-Shops geschlossen. Unser Quartier in der Jugendherberge teilen wir mit den Leuten, die dem „Schietwetter“ etwas abgewinnen können: Naturfotografen und Surfer. „Es gibt Besucher, die das mögen“, sagt Tourismusdirektor Klaus Furtmeier, und es klingt fast ungläubig. „Noch vor fünf Jahren sind im Winter 30 Prozent weniger angereist.“

„Helgoland im Winter hat viel Romantik“, schwärmt Fotograf Wilfried Schmidt, den wir beim Bäcker kennenlernen. Die gerahmten Fotos an den Wänden stammen von ihm: Sturmwellen, Schiffe. „Ich bin immer wieder hergefahren, wegen der Einsamkeit“, erzählt er. „1981 bin ich geblieben. In Wirklichkeit ist es nicht einsam, nicht mehr, gerade im Sommer.“

Schmidt empfiehlt uns, auf dem Klippenrandweg zu wandern. Der Weg verläuft im Oberland vorbei am Leuchtturm, der seinen Lichtstrahl 28 Seemeilen weit sendet. Schafe beobachten uns dabei, wie wir durch die Böen zu den rot leuchtenden Felsen an Helgolands Nordspitze taumeln. Info-Pyramiden füttern uns häppchenweise mit der wechselvollen Inselgeschichte. Dort, wo es am tollsten pustet, steht die Lange Anna, ein 50 Meter hoher Buntsandsteinfelsen, das Wahrzeichen der Insel. Wir hören das Geschrei der Trottellummen, die in den Felsspalten hocken.

Eine Insel wie im Bilderbuch

Den Kindern ist der Wind zu viel. Sogar Mini-Buddha Merlinde quäkt missmutig. „Erzähl mir eine Geschichte“, fordert Alice von mir. Das tut sie immer, wenn der Schuh drückt. Eine Geschichte vermag die Welt dann wieder heil zu machen. Der perfekte Zeitpunkt, um die kleine, aber feine Insel-Bibliothek aufzusuchen.

40 Prozent der Bücher, die hier stehen, sind für Kinder. Der Helgoländer Schriftsteller James Krüss lächelt schelmisch von einem Plakat herab. Seine Geschichten und Reime füllen die Regale. Henriette Bimmelbahn, Der blaue Autobus … Alice will alle vorgelesen bekommen. „Die Kinder- und Jugendliteratur ist unser Herzstück“, strahlt Bibliotheksleiterin Ruth Köhn und vertraut uns an: „Eine Kindheit auf Helgoland ist unbezahlbar. Die Insel ist ein Klein-Bullerbü.“

Die Einzige aus der Familie Krüss, die noch auf der Insel lebt, ist James‘ Schwägerin Birgit. In ihrem Lädchen Modetruhe verkauft die zierliche Dame zwischen Kleidern auch Kinderbücher. „An den Abenden hat mein Schwager uns seine Gedichte vorgelesen“, erinnert sie sich. Das war vor rund 50 Jahren auf Gran Canaria. Nach der Evakuierung Helgolands im Zweiten Weltkrieg war Krüss nie zurückgekehrt. „Die Insel war später nicht mehr dieselbe“, sagt Birgit Krüss wehmütig.

Draußen zischen Kinder auf Skateboards an uns vorbei. Auf Helgoland gibt es (mit wenigen Ausnahmen) weder Autos noch Fahrräder. „Moin, Alice!“, grüßt jemand unsere Tochter. Man kennt sich. Hummerfi scher, wie sie in den Tagen James Krüss’ hier lebten, trifft man nicht mehr. Die Leute leben vom Tourismus. Aber ein „Klein-Bullerbü“ ist die Insel wirklich.

  • kizz Reisetipps

    • Anreise: Mit dem Seebäderschiff in 2,5 Stunden täglich ab Cuxhaven (www.cassen-eils.de); mit dem Flugzeug in 20 Minuten mehrmals täglich ab Bremerhaven, Cuxhaven oder Büsum (www.flughafen-helgoland.de; nur neun Plätze!)
    • Unterkunft: Die Jugendherberge im Norden der Insel bietet mit Spielplatz, Spielzimmer und Turnhalle gute Möglichkeiten zum Toben. Ein Gastgeberverzeichnis mit allen weiteren Unterkünften gibt es unter: www.helgoland.de
    • Essen: Im Winter sind einige Cafés und Restaurants geschlossen, viele öffnen erst am Nachmittag (Lunchpaket für die Mittagzeit vorbereiten). Im Restaurant Atlantis essen Kinder unter vier Jahren kostenlos. Die Bedienung der Mocca-Stuben hält Spielzeugautos bereit. Die Fischgerichte beider Adressen sind absolut empfehlenswert. Im Café Krebs gibt es Kinderbücher und Malsachen, im Falm Café Weitblick und Ferngläser. Gudrun’s Bürgerstübchen lockt mit süßen Crêpes.
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