Eltern heuteAlles unter Kontrolle

Wer Kinder bekommt, ändert seinen Lebensstil. Statt Spontaneität und Unvernunft herrschen jetzt Pfl icht und Ordnung. Dabei wollten wir doch nie spießig werden

Alles unter Kontrolle
Kann man als Eltern trotzdem noch Abenteuer erleben? © courtneyk - iStock

Neulich habe ich es doch getan. 15 Jahre lang hat mein innerer Abwehrkampf gedauert, jetzt ist es passiert: Ich habe mir eine praktische Mutti-Jacke gekauft. Eine von diesen halblangen, unförmigen, regen- und windabweisenden, uneleganten, meist schlammgrünen Allwetter-Dingern mit abnehmbarer Kapuze. Dabei hatte ich mir immer geschworen, dass ich so was nie, nie, nie tragen werde. Zu hässlich, zu spießig, zu klischeehaft.

Wer Kinder bekommt, der tut plötzlich Dinge, die im coolen Lebensplan vorher nicht vorgesehen waren. Eltern tauschen ihre gemütlichen Wohnungen in idealer Innenstadtlage gegen ein langweiliges Reihenhaus am Stadtrand. Sie kaufen Familienkutschen in Blaumetallic, bewerben sich auf unkündbare Festanstellungen und machen in ihrer Freizeit Termine bei Versicherungsberatern. Pumps und Miniröcke werden eingemottet, stattdessen zieren jetzt Outdoor-Sandalen oder Goretex-Halbschuhe die Füße. Die Motorräder verschwinden aus den Garagen, die Lippenstifte aus den Handtaschen. Erstere machen Platz für Roller und Bobbycars, zweitere für Schnuller, Feuchttücher und Plastikdosen mit Apfelschnitzen.

Trautes Heim, Glück allein

Die äußeren Veränderungen gehen mit inneren einher. Die Gespräche drehen sich nicht mehr um Konzerte oder Kinofilme, sondern um die Anschaffung von Autositzen und Kindermatratzen. Unterhaltungen unter Eltern sind so langweilig wie vorhersehbar: Seid ihr zufrieden mit der Kitabetreuung? Welche Grundschule habt ihr ins Auge gefasst? Auf dem Nachttisch liegen keine Romane, sondern Erziehungsratgeber, Kochbücher und Hefte von Stiftung Warentest.

Das ist auch alles gut und richtig – und vor allem so wahnsinnig vernünftig. Aber wollten wir wirklich so werden? Wo ist die Spontaneität geblieben, der Spaß, die Unvernunft? Früher, als noch keine familiäre Verantwortung auf uns lastete, waren wir doch verrückt und wild und unangepasst – und hatten uns fest vorgenommen, es für immer zu bleiben. Wir wollten auf Partys und Safaris gehen, Musik machen, im Ausland arbeiten, alternative Wohn- und Lebensformen ausprobieren. Exzessiv genießen, alles erleben und mitnehmen. Jetzt gehen wir früh schlafen, halten unsere quadratischen Rasenflächen kurz, ermahnen die Kinder siebzehnmal täglich, Obst zu essen, und staubsaugen ständig hinter ihnen her.

Bloß kein Chaos

Ja, wir sind die Generation Biedermeier, die Vertreter der neuen Bürgerlichkeit, die Neo-Spießer: Wir besitzen Bausparverträge und Ausbildungsversicherungen, Schrankwände und Einbauküchen, Hobbykeller und Schrebergärten. Wir achten darauf, dass der Nachwuchs genug Auslauf und genug Schlaf kriegt. Dass der Kühlschrank immer voll und das Konto möglichst immer ausgeglichen ist. Wir rauchen nicht und trinken kaum und schlagen auch sonst nie über die Stränge. Unsere Tugenden heißen jetzt Sicherheit, Sparsamkeit, Selbstkontrolle. Gesellschaftlich liegt die heutige Elterngeneration damit voll im Trend. Auch Jugendliche und junge Erwachsene äußern sich derzeit erstaunlich konservativ: In Umfragen geben sie regelmäßig an, dass Familie, ein schönes Heim und ein sicherer Job für sie höchste Priorität haben.

„Spießigkeit“ ist übrigens ein typisch deutscher Begriff, den es so in anderen Sprachen gar nicht gibt. Die Franzosen übersetzen „spießig“ mit „kleinbürgerlich“ und „engstirnig“, die Engländer mit „konventionell“ und „pedantisch“. Das trifft es aber nur zum Teil. Laut Duden meint „spießig“ auch so etwas wie „piefig“ und „provinziell“. Wikipedia ergänzt: „Als Spießer werden engstirnige Personen bezeichnet, die sich durch geistige Unbeweglichkeit, ausgeprägte Konformität mit gesellschaftlichen Normen und Abneigung gegen Veränderungen der gewohnten Lebensumgebung auszeichnen.“ Anders gesagt: Wer spießig ist, dessen Leben bewegt sich in einem engen weltanschaulichen Rahmen. Es gibt für alles Routinen, Regeln, feste Prinzipien. Sind wir das? Es gibt Anzeichen, die dafür sprechen. Diese dogmatische Besessenheit beim Thema Ernährung zum Beispiel. Oder diese ewigen Aufräum- und Putzaktionen, die wir mit mürrischen Gesichtern absolvieren. Weil man das eben so macht. Weil es sich so gehört.

Dabei wären gelegentliche Ausbrüche gar nicht schwierig. Man müsste nur ab und zu den Dreck und das Chaos ein wenig gelassener ertragen und die gewonnene Lebenszeit für die schönen Dinge nutzen, von denen wir früher nie genug kriegen konnten: lachen, quatschen, Pläne schmieden. Schon am Nachmittag mit Freundinnen eine Flasche Sekt köpfen und dann abends noch stundenlang tanzen gehen. Oder endlich mal wieder Rucksack-Abenteuerreisen statt Kinderhotel im Schwarzwald.

Ein paar bunte Farbspritzer im Einheitsgrau des elterlichen Pflichtbewusstseins – das reicht ja vielleicht schon. Ich habe es mir jedenfalls geschworen: An mindestens einem Tag der Woche bleiben die praktische Regenjacke und die Wanderschuhe im Schrank. Dafür wird endlich mal wieder der extravagante Minirock mit den sündhaft teuren roten Lederstiefeln ausgeführt. Einfach so, aus purer Lust. Denn das ist ja das Gute am Erwachsensein: Wir sind jetzt die Großen. Kein blöder Spießer kann uns mehr vorschreiben, was wir zu tun oder zu lassen haben.

Top Five der spießigen Dinge, die wir nie tun wollten:

  1. Bei den Nachbarn anrufen, weil die Musik zu laut ist.
  2. Den Zuckergehalt von Müslipackungen vergleichen.
  3. All-inclusive-Urlaub in einem Familienhotel machen.
  4. Einen Thermomix statt einen schicken Plattenspieler kaufen.
  5. Um 22 Uhr ins Bett gehen.

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