Annas Mutter weiß schon, was auf sie zukommt, wenn sie ihre Tochter zu einem Kindergeburtstag bringt: Die Fünfjährige klammert sich an sie und will, dass Mama dableibt. Auf Familienfeiern versteckt sich Anna unter dem Tisch oder dreht sich weg, wenn sie angesprochen wird. Woran liegt es, dass manche Kinder Hemmungen bei der Kontaktaufnahme haben, während andere unbefangen auf Menschen zugehen?
„Schüchternheit und Zurückhaltung sind Ausdruck des Temperaments und Teil der Persönlichkeit“, sagt Diplompsychologin Annette Stefini. „Bei Kindern gibt es da genauso Unterschiede wie bei Erwachsenen.“ Oft werde Schüchternheit mit in trovertiertem Verhalten gleichgesetzt und tatsächlich sind viele schüchterne Kinder und Erwachsene auch introvertiert. Das heißt, sie brauchen regelmäßig Rückzug und Ruhe, um sich zu regenerieren. Im Gegensatz zu Extrovertierten, die gerade Energie aus der Geselligkeit mit anderen Menschen ziehen.
Physiologische Ursachen
Wissenschaftler haben nachgewiesen, dass die Gehirne von introvertierten Menschen anders organisiert sind als die von lauten, geselligen. Unter anderem lässt sich bei ihnen eine erhöhte elektrische Aktivität des Gehirns messen, es braucht für die Verarbeitung von Eindrücken schlichtweg mehr Energie. Bei schüchternen Menschen wurde zudem eine höhere Reizbarkeit der Amygdala festgestellt. Das ist die Stelle im Gehirn, die Angstgefühle, aber auch Abenteuerlust und Mut steuert. Bereits Säuglinge unterscheiden sich stark darin, wie sie auf unbekannte Gesichter reagieren. Manche fangen an zu weinen, andere sind neugierig und offen.
Neben den Genen entscheidet auch das Umfeld des Kindes darüber, ob es eher schüchtern oder ein Draufgänger wird. Denn natürlich prägt es, ob Kinder in eine lebhafte Großfamilie hineingeboren werden oder stille Einzelgänger als Eltern haben. „Egal ob vererbt oder durch Erziehung beeinflusst – schüchternes Verhalten tritt bei Kindern gehäuft auf, wenn einer der beiden Elternteile selbst schüchtern ist“, sagt Psychologin Stefini.
Gerade Eltern, die selbst die Nachteile von schüchternem Verhalten kennengelernt haben, wollen ihre Kinder oft mit aller Kraft zu einem mutigen und forschen Verhalten bringen. Penetrante Hinweise sowie Ermahnungen („Sei doch nicht so schüchtern!“, „Lass dir nicht alles gefallen!“) sind aber kontraproduktiv, denn ein zurückhaltendes Kind kann seine Gefühle nicht einfach abstellen. Der erste wichtige Schritt für alle Eltern ist deshalb, ihr Kind so zu akzeptieren, wie es ist, ohne zu urteilen.
Eltern sollten anerkennen, dass schüchterne Kinder ganz besondere Gaben haben, sagt die Bildungsforscherin und Leiterin des Staatsinstituts für Frühpädagogik (IFP), Fabienne Becker-Stoll. „Gerade die zurückhaltenden, vorsichtigen Kinder haben feine Antennen für alles, was um sie herum passiert. Sie bekommen sofort mit, wenn irgendwo gestritten wird oder ein Baby weint. Oft
sind das Kinder, die sich gerne um Jüngere kümmern und sehr behutsam und einfühlsam mit ihnen umgehen.“
Fähigkeiten erkennen
Diese Stärken sollten Eltern wahrnehmen und würdigen: „Ich habe gesehen, dass du genau geprüft hast, wie tief das Wasser ist, bevor du hineingesprungen bist. Das fand ich gut.“ Oder: „Ich habe bemerkt, dass du lange beobachtet hast – was hast du denn gesehen?“ Damit unterstützen Eltern ihre Kinder dabei, ihre Bedürfnisse und Neigungen anzuerkennen und stärken ganz nebenbei ihr
Selbstbewusstsein. Denn schüchterne Kinder nehmen Erfolgserlebnisse oft weniger stark wahr als Misserfolge und sind oft sehr kritisch mit sich selbst. „Vermeiden Sie deshalb, eigenen Stress zu übertragen, etwa durch Ungeduld oder Druck“, rät Sylvia Löhken in ihrem Ratgeber Leise Menschen – starke Wirkung.
Kinder wie Anna brauchen Zeit, um sich auf neue Situationen einzustellen. Das erfordert Geduld und gute Planung: Annas Mutter weiß inzwischen, dass es ihre Tochter stresst, erst in letzter Minute bei Geburtstagsfeiern oder anderen Terminen zu erscheinen. Sie braucht eine Aufwärmphase zusammen mit ihrer Mutter, um anzukommen. Nach einer Weile fühlt sie sich sicher und spielt ohne Probleme – allerdings lieber mit einem Kind als in einer größeren Gruppe. Auch das ist typisch für ihr Temperament.
Für gute Bedingungen sorgen
Weil schüchterne, introvertierte Kinder besonders empfindsam auf Außenreize reagieren, leiden sie viel stärker unter Lärm, Chaos und Unruhe als extrovertierte. Es ist daher sehr belastend für sie, wenn die Erzieherin und später die Lehrkraft nicht für Ruhe und eine konzentrierte Atmosphäre sorgen. In der Schule fallen sie zudem weniger auf und gelten schnell als passiv. Ihre
Hemmungen, vor einer größeren Gruppe zu sprechen, können zu Nachteilen bei mündlichen Noten führen.
Eltern von schüchternen Kindern sollten sich daher darauf einstellen, ihrem Nachwuchs ein Stück weit den Rücken zu stärken, raten Experten wie Fabienne Becker-Stoll. Weil Väter oder Mütter von schüchternen Kindern selbst oft zurückhaltend sind, falle ihnen das manchmal schwer. „Aber es bringt viel, der Erzieherin im Kindergarten und später der Grundschullehrerin freundlich, aber beharrlich klarzumachen, dass ihr Kind genau das gleiche Recht auf bestmögliche Bildung und Begleitung hat wie alle anderen“, sagt Becker-Stoll. „Wenn man dem Bedürfnis schüchterner Kinder nach Vorhersehbarkeit, Klarheit und Strukturen
entgegenkommt, dann können sie sich auch gut einbringen.“
kizz Interview
Wenn Ängste blockieren
Welche Hemmungen sind normal, welche nicht? kizz sprach mit der Diplompsychologin Dr. Annette Stefini von der Universitätsklinik für Allgemeine Psychiatrie Heidelberg
Frau Dr. Stefini, wann wird schüchternes Verhalten zum Problem?
Um das ganz klar abzugrenzen: Es ist völlig in Ordnung, wenn ein Kind zurückhaltend ist. Eine Störung liegt erst dann vor, wenn Kinder ausgeprägte Ängste entwickeln, beurteilt und beschämt zu werden, etwa bei der Aufnahme von sozialen Kontakten oder in einer Leistungssituation. Der Fachbegriff dafür ist soziale Phobie. Sie führt dazu, dass Kinder Situationen, die sie als bedrohlich empfinden, vermeiden. Ein Teufelskreis: Denn durch dieses Vermeidungsverhalten manifestiert sich die Angst und wird noch größer.
Ängste gehören zur kindlichen Entwicklung dazu. Woran erkennen Eltern, welche Ängste altersgerecht sind und welche nicht?
Das ist oft nicht ganz einfach einzuschätzen. Jedes Kind durchläuft die Autonomieentwicklung in seinem eigenen, individuellen Tempo. Aber es gibt Meilensteine. Wenn ein Kind bei einer Freundin übernachtet, aber mitten in der Nacht abgeholt werden muss,
wäre das im Kindergarten- und frühen Grundschulalter noch kein Alarmsignal. Ab der 4. Klasse aber sollten Kinder das schaffen. Ein sicherer Indikator für pathologisches Verhalten ist, wenn das Kind selbst stark unter seiner Angst leidet.
Sollten Eltern also eher auf Hemmungen bei sozialen Anlässen achten als zum Beispiel auf Lampenfieber beim Gedichtaufsagen vor der Klasse?
Sie werden zumindest von den Kindern selbst sehr stark als Beeinträchtigung erlebt, stärker als etwa die Angst, vor der Klasse etwas Falsches zu sagen. Heute zählen allerdings mündliche Noten sehr viel mehr als früher. Die Angst davor, sich zu melden, kann zu Problemen in der Schule und der weiteren Karriere führen. Viele Schüler mit sozialer Phobie machen einen schlechteren Schulabschluss, als nach ihrem Intellekt eigentlich zu erwarten wäre.
Sie forschen an neuen therapeutischen Ansätzen, Kinder mit einer Angststörung zu behandeln. Was erhoffen Sie sich von der Studie?
Wir wissen, dass so etwas wie eine innere kritische Stimme diese Ängste auslöst. Ein Beispiel: Ein Kind findet ein anderes total interessant, will es ansprechen und sich mit ihm anfreunden. Aber der Gedanke „Das andere Kind fi ndet mich bestimmt doof oder komisch“ führt dazu, dass es die Kontaktaufnahme unterlässt und sich zurückzieht. Wir wollen mit unseren Therapien herausfinden, wie man diese dysfunktionalen Gedanken blockieren oder auflösen kann.