Die Plastikkiste ist ein Stall, und da müssen jetzt alle Holztiere dringend rein. Erst hat Mia sie auf dem Teppich grasen lassen, aber nun ist es Zeit zum Schlafengehen. Geduldig legt die Drei jährige ein Tier nach dem anderen in die mit einer Puppendecke ausgepolsterte Kiste. Schon eine ganze Weile spielt sie so ihr selbst erfundenes Spiel und lässt sich dabei weder von der Unterhaltung der Erwachsenen noch vom Radio stören – und auch nicht von ihrem Vater, der irgendwann zum Abendessen ruft.
Am nächsten Morgen möchte Mias Mutter die Tochter in den Kindergarten bringen. Schon zum fünften Mal fordert sie das Kind auf, die Jacke anzuziehen. Mia hat die Jacke schon in der Hand, aber alle paar Sekunden fällt ihr noch etwas ein: den neuen Ball ausprobieren, die Schuhe umsortieren, schnell noch ein anderes Halstuch raussuchen … Wahrscheinlich kennen die meisten Eltern ähnliche Szenen und fragen sich manchmal verwundert: Können Kinder sich eigentlich besonders gut konzen trieren – oder doch eher gar nicht?
Mit allen Sinnen dabei
Die wissenschaftlich korrekte Antwort müsste wohl heißen: Kommt drauf an, und zwar sowohl auf das Alter des Kindes als auch auf das, was es gerade tut. Sich zu konzentrieren meint dabei, die Aufmerksamkeit auf bestimmte Aspekte der Umgebung zu richten und andere mehr oder weniger stark auszublenden. „Schon mit wenigen Monaten kann ein Baby einem Gegenstand wie zum Beispiel einem Mobile oder einer Person für eine gewisse Zeit seine volle Aufmerksamkeit schenken“, sagt Janina Strohmer, Professorin für Entwicklungspsychologie an der Evangelischen Hochschule Freiburg. Das Baby sucht allerdings in der Regel noch nicht aktiv aus, womit es sich beschäftigt, sondern reagiert auf äußere, auffällige Reize, etwa das Geräusch neben dem Bettchen, das Spielzeug, das ihm jemand vor die Nase hält. Und: Die Aufmerksamkeit hält meist nicht allzu lange an.
Mit knapp einem Jahr nimmt dann die Fähigkeit zu, die eigene Aufmerksamkeit willentlich zu steuern, sagt Strohmer. „Die Kinder sind zunehmend in der Lage, bestimmte Aspekte gezielt auszuwählen und andere mehr und mehr gekonnt auszublenden.“ Die
Fähig keit zur Konzentration im engeren Sinne, nämlich die eigene Aufmerksamkeit bewusst für einen längeren Zeitraum auf eine Aufgabe zu richten und trotz anderer interessanter Reize bei der Sache zu bleiben, erwerben Kinder nach und nach im Vor- und Grundschulalter.
Woran liegt es aber, dass die Aufmerksamkeitsspanne einer Dreijährigen für die Tiere in der Plastikkiste so viel länger ist als für das Anziehen der Jacke? „Sehr deutlich auch an motivationalen Aspekten“, sagt Strohmer. Warum macht ein Kind etwas, und wie interessant findet es diese Tätigkeit im Moment? „Sind angenehme Erlebnisse mit einer Situation verbunden, so fällt es den Kindern viel leichter, die zum Verweilen notwendige Energie zur Verfügung zu stellen“. Das sei bei Erwachsenen
schließlich auch nicht viel anders. Schon die Pädagogin Maria Montessori hat beobachtet, dass sich Kinder für eine Weile komplett in ein selbst gewähltes Spiel vertiefen können, wenn es ihren Bedürfnissen und Interessen entspricht. Sie fand dafür den Begriff „Polarisation der Aufmerksamkeit“, weil sich die Aufmerksamkeit des Kindes dann vollständig auf das Spiel ausrichtet, so wie Magnetnadeln auf den Nordpol. Kindern die Möglichkeiten zu solchen Beschäftigungen zu bieten, sei wichtig für ihre Persönlichkeitsentwicklung. Auch Psychologin Strohmer sagt: „Es ist eine zentrale Entwicklungs- und Lernvoraussetzung, auch einmal bei etwas bleiben zu können.“ Nur durch eine „vertiefte Auseinandersetzung“ könne ein Kind einen Bezug zu einem Gegenstand, einer Tätigkeit oder einer Person aufbauen.
Voraussetzung für das schulische Lernen
Wenn es auf den Schulanfang zugeht, tritt das Thema Aufmerksamkeit oft verstärkt in den Fokus der Eltern. Im letzten Kindergartenjahr fragen sich manche, ob ihr Nachwuchs die nötige Ausdauer und Konzentrationsfähigkeit besitzt, um den Anforderungen der Schule gewachsen zu sein. Prof. Janina Strohmer rät, die Erwartungen nicht zu hoch zu schrauben. Auch Kinder im Vorschulalter hätten noch lange nicht eine mit Erwachsenen vergleichbare Aufmerksamkeitsspanne. Bei Fünf- bis
Sechsjährigen könne man von nicht viel mehr als einer Viertelstunde wirklicher Konzentration ausgehen. „Eltern sollten in jedem Fall sensibel dafür sein, was die Aufmerksamkeit ihrer Kinder auf sich zieht“, sagt Strohmer. „Hieran lässt sich meist gut erkennen, welche Themen für das Kind aktuell sehr wichtig sind.“ An diese lässt sich anknüpfen, indem dem Kind entsprechende Beschäftigungen angeboten werden. Hilfreich ist es auch, das Gespräch mit den ErzieherInnen zu suchen. Die Konzentrationsfähigkeit wird in der Kita durch unterschiedliche Beschäftigungen unterstützt und ist – ebenso wie andere wichtige Kompetenzen – Gegenstand der Entwicklungsdokumentation. In einem Elterngespräch können Bedenken zum Ausdruck gebracht und mögliche Konsequenzen besprochen werden.
Wenn nur das Anziehen der Jacke mal wieder länger dauert, weil alles andere gerade interessanter ist, dann hilft es vielleicht auch schon sich klarzumachen, dass Kinder eben anders aufmerksam sind als Erwachsene. Weniger zielgerichtet, könnte man sagen – oder aber wie die amerikanische Entwicklungspsychologin Alison Gopnik von der „Fähigkeit zu einer sehr
breitgefächerten Aufmerksamkeit“ sprechen: weniger wie ein Scheinwerfer, sondern mehr wie eine Laterne, die alles beleuchtet und dem Kind dabei hilft, möglichst viel Neues in der Welt ringsum zu entdecken.
kizz Info
Umstrittene Diagnose ADHS
Über kaum eine Diagnose bei Kindern wird so viel diskutiert wie über die der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) – bis hin zur Frage, ob es sich dabei überhaupt um eine Krankheit handelt. Das liegt auch daran, dass die Übergänge fließend sind zwischen schwierigen Eigenheiten von Kindern in unterschiedlichen Lebenssituationen und den Symptomen von ADHS.
Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen gelten als ein Hauptmerkmal von ADHS: Die Kinder sind kaum in der Lage, bei
der Sache zu bleiben und brechen Spiele nach kurzer Zeit wieder ab. Dazu kommen häufig eine starke körperliche Unruhe und impulsives Verhalten. Um von ADHS zu sprechen, müssen andere Ursachen ausgeschlossen werden und die Symptome sehr stark ausgeprägt sein, über einen längeren Zeitraum von mehr als sechs Monaten anhalten und in verschiedenen Bereichen auftreten – also zum Beispiel im Kindergarten und zu Hause. Oft heißt es, betroffene Kinder verfügten über eine „verminderte Fähigkeit zur Selbststeuerung“: Sie haben besondere Schwierigkeiten, Reize zu verarbeiten.
Laut Studien, die auch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) nennt, wird ADHS bei knapp fünf Prozent der Kinder und Jugendlichen diagnostiziert. Die Ursachen sind nicht ganz klar, man geht heute davon aus, dass ererbte Faktoren eine wichtige Rolle spielen. Wie sich eine mögliche Störung entwickelt, hängt auch davon ab, unter welchen Lebensumständen die Kinder aufwachsen und welche Unterstützung sie erhalten.
Als Behandlung wird meist eine Mischung aus pädagogischen und therapeutischen Ansätzen genannt. Für Eltern gibt es Trainings, in denen sie lernen, ihre Kinder durch verlässliche und berechenbare Abläufe zu unterstützen, auch Bezugspersonen im Kindergarten sollten einbezogen werden. Umstritten ist die begleitende Therapie mit Medikamenten, die nur ergänzend bei schweren Störungen empfohlen wird. Ansprechpartner sind Kinderärzte, Erziehungsberatungsstellen und Selbsthilfegruppen für Eltern.
Linktipp
Die Broschüre adhs ... was bedeutet das? kann bei der BZgA bestellt oder heruntergeladen werden: www.bzga.de