"Mama, der Jona haut immer“, klagt Henriette, als ihre Mutter sie vom Kindergarten abholt. Die hört das nicht zum ersten Mal. Doch ein Patentrezept, um aggressives Verhalten wie bei Jona abzustellen, gibt es nicht.
Nicht jeder handfest ausgetragene Streit um das Lieblingsspielzeug ist Grund zur Besorgnis. Im Übergang vom Baby- zum Kindergartenalter gibt es immer wieder Phasen, in denen Treten, Hauen oder Beißen normal sind – auch, weil die verbalen Ausdrucksmöglichkeiten der Kinder noch stark begrenzt sind. Aber auch bei älteren kommt es immer wieder zu aggressivem Verhalten.
Fehlende Affektsteuerung
„Aggressionen gehören zum Leben und sind für die Entwicklung zu einem selbstbewussten, selbstständigen und interessierten Menschen wichtig“, sagt Eva Busch, Kinder- und Jugendtherapeutin und Leiterin des Winnicott- Instituts in Hannover. Nicht umsonst steckt im dem lateinischen Ursprungswort „aggredere“ auch die Bedeutung „etwas angehen“. „Aggression im positiven Sinne bedeutet, dass Kinder Energien freisetzen, um neue Erfahrungen zu machen.“ Dabei werden Kinder auch mal grob, um ihren Willen durchzusetzen, sagt Busch. Sie dafür zu bestrafen, als „böse“ oder „unartig“ abzustempeln, sei allerdings kontraproduktiv. Erwachsene sollten zwar eingreifen, um weitere Eskalationen zu verhindern, dabei aber Möglichkeiten aufzeigen, Wünsche auszudrücken, ohne handgreiflich zu werden.
„Es ist allerdings ein Unterschied, ob Kinder in einem Streit immer heftiger werden und es dann auch zu Gerangel kommt, oder ob jemand dazu neigt, aus dem Nichts heraus das Spiel der anderen zu stören oder zu hauen“, sagt die Therapeutin. Solche
Kinder können ihre Impulse nicht gut steuern und brauchen Erwachsene, die aufmerksam beobachten und notfalls schnell und konsequent eingreifen, um Übergriffe zu verhindern. „Nur so haben Kinder die Chance, sich langsam in die Gruppe zu integrieren, Freundschaften einzugehen und Freude am Spiel mit den anderen zu finden.“
Viele Gründe für Aggression
Es gehören Geduld, Feinfühligkeit und viel Verständnis dazu, angemessen auf kindliche Aggressionen zu reagieren. Das ist insbesondere im Kita-Alltag nicht immer einfach. Idealerweise beobachten ErzieherInnen jedes Kind vorurteilsfrei. Doch oft genug werden vorschnell klischeehafte Schubladen aufgemacht: Der Sohn einer türkischen Familie ist dann etwa der „kleine Pascha“, der „zu Hause alles darf“, die Tochter des Alleinerziehenden eine „Zicke“‚ die „nie hört“. Solche Etiketten
verhindern ein individuelles Suchen nach den Ursachen für Konflikte.
Warum manche Kinder aggressiver als andere sind? Oft spielen mehrere Faktoren zusammen. Wenn es Kindern an Einfühlungsvermögen fehlt, können sie Blicke, Gesten und Verhaltensweisen anderer nur schlecht einordnen. Eva Busch spricht in diesem Zusammenhang vom „fehlenden Navigationssystem“. Diese Kinder kommen in der Gruppe nicht zurecht, weil sie kein Gefühl dafür haben, wann sie Kontakt aufnehmen können und wann sie andere in Ruhe lassen müssen. Manche Kinder rufen mit ihrem aggressiven Verhalten aber auch nach mehr Nähe und Aufmerksamkeit. Wieder andere sind vom pädagogischen Konzept überfordert, etwa von einer starken Altersmischung oder dem offenen Spiel.
Auf der Suche nach Halt
Natürlich haben auch Erziehung und familiäre Situation Einfluss auf die Gewaltbereitschaft. Ein machtbetonter, autoritärer Erziehungsstil, zerrüttete Verhältnisse oder eine Umgebung, in der es an Wärme und Anteilnahme fehlt, sind keine
guten Voraussetzungen. „Verhaltensgestörte Kinder werden nicht geboren, sondern gemacht“, sagt Ingeborg Becker-Textor. Nur in seltenen Fällen liege tatsächlich ein hirnorganischer Defekt vor, der verhindert, dass Kinder ihre Impulse kontrollieren können. Die Pädagogin und Autorin des Ratgebers Schwierige Kinder gibt es nicht – oder doch?* plädiert dafür, die Ursachen für Auffälligkeiten nicht im Kind selbst zu suchen, sondern in dem System, das es umgibt: verschiedene Personen, die meist ganz unterschiedliche Wünsche und Erwartungen haben.
Das komplizierte Geflecht aus möglichen Ursachen macht es schwierig, verhaltensauffällige Kinder zu unterstützen. Nicht selten bringt das Erzieher an die Belastungsgrenze. Im Kita-Alltag helfen aggressiven Kindern feste Tagesabläufe und Rituale, weil sie Struktur und Sicherheit geben. Becker-Textor hat erfolgreich mit sogenannten Kinderkonferenzen gearbeitet. „Da kann
jeder sagen, was ihn ärgert oder freut, da kann man herausarbeiten, warum der Jona immer haut oder alles kaputtschmeißt. Und wenn er sagt, ‚weil ihr mich nicht mitspielen lasst‘, kann man Strategien entwickeln und diskutieren.“ Auch pädagogisches Puppenspiel, bei dem nicht der Erzieher, sondern die Figur in Kontakt mit den Kindern tritt, kann gut funktionieren. Der Nachteil all dieser Maßnahmen ist, dass sie Zeit brauchen, um zu wirken. Aber schnelle Lösungen gibt es eben manchmal nicht.
kizz Info
Reflex oder letzter Ausweg: Beißen
Beißende Kinder lösen oft Entsetzen aus, die Wunden hinterlassen lang sichtbare Spuren. Während die Eltern der Opfer empört sind und sich fragen, wie solche Attacken verhindert werden können, herrschen auf der anderen Seite Ratlosigkeit und Scham.
Kinder im Alter von ein bis drei Jahren beißen, weil …
… sie hungrig, müde oder überreizt sind oder sie einfach nur das Prinzip Ursache und Wirkung erproben wollen.
… sie ihre Welt mit dem Mund erkunden – und dabei auch vor dem Arm des Freundes nicht haltmachen. Ist Zahnen der Grund, können Spielsachen für die Mundmotorik helfen.
… sie unter Spannung stehen und Gefühle noch nicht versprachlichen können. Etwa, wenn sich alle vor der Garderobe drängeln oder eine Gruppe Kinder um ein Spielzeug streitet.
Wie reagieren?
Erst das gebissene Kind trösten, beruhigen und verarzten. Zeitnah (innerhalb der nächsten zwei Minuten) auf das beißende
Kind reagieren, da es sonst keinen Bezug mehr zu seiner Handlung herstellen kann. Hören die Beißattacken nach dem dritten
Lebensjahr nicht auf, sollte ein Kinderarzt konsultiert werden.