Nach einem Monat reichte es der dreijährigen Lina. Zu Beginn war das neue Geschwisterchen ja noch niedlich gewesen, aber jetzt wollte sie ihre Eltern gerne wieder für sich alleine haben. „Wann geht das Baby wieder?“, fragte sie ihre Mutter. „Nie mehr“, sagte die. „Das ist dein kleiner Bruder, der bleibt.“
Rund zwei Drittel aller Kinder in Deutschland wachsen mit Schwestern und Brüdern auf. Die Bindung zwischen ihnen hält meist länger als jede andere in ihrem Leben. Freundschaften lösen sich auf, Partner trennen sich, Eltern sterben – aber Geschwister bleiben. „Man kann zwar den Kontakt zu ihnen abbrechen, aber die Beziehung zu ihnen wohl kaum jemals dauerhaft beenden“, schreibt der Entwicklungspsychologe und Familienforscher Hartmut Kasten in seinem Buch Geschwister – Vorbilder, Rivalen, Vertraute.
Auch Lina hat sich nach der anfänglichen Skepsis schnell an ihren Bruder gewöhnt. Sie hat mit ihm gespielt, gekuschelt und um den Platz auf Mamas Schoß gezankt. Sie hat ihn bei Papa verpetzt und bei der Oma im Schutz genommen. Er war dabei, als sie sich das erste Mal ohne Schwimmflügel in den See traute, sie war Zeugin seines Töpfchentrainings.
Prägende Beziehungen
Fast jeder, der Geschwister hat, kennt sie, diese Mischung aus Verbundenheit und Abgrenzung, aus Rivalität und Nähe, aus Liebe und Hass. Ein Bruder oder eine Schwester steht uns, abgesehen von den Eltern, in den ersten Lebensjahren näher als jeder andere Mensch. Hartmut Kasten nennt das Aufwachsen mit Brüdern und Schwestern eine „Spielwiese“, auf der sich soziales Verhalten ausprobieren lässt, ähnlich wie in einem Trainingslager.
Über das ganze Leben gesehen verlaufen Geschwisterbeziehungen in Wellen: Bis zur Pubertät setzen sich Brüder und Schwestern eng miteinander auseinander. Später, wenn es darum geht, sich im Beruf zu etablieren und eine Familie zu gründen, flaut der Kontakt oft ab. Im Alter, das haben Studien ergeben, keimt in vielen Menschen der Wunsch, wieder enger mit den Geschwistern zusammenzurücken.
Die Geschwisterforschung ist ein junges Feld. Erst seit etwa Mitte der Achtzigerjahre versuchen Wissenschaftler wie Harmut Kasten oder sein Schweizer Kollege Jürg Frick, klare Aussagen darüber zu treffen, inwieweit Faktoren wie Geschwisterzahl, Geburtenfolge oder Altersabstand sich auf die individuelle Entwicklung auswirken. Noch sind die Erkenntnisse eher mager. Fest steht, dass ein geringer Altersabstand zwischen Geschwistern oft zu einer innigeren
Beziehung zwischen ihnen führt. Als gesichert gilt inzwischen auch, dass die Position viel weniger Auswirkung hat als jahrzehntelang angenommen.
Die pflichtbewusste Älteste, das verkorkste Sandwichkind, das verzogene Nesthäkchen – das sind Klischees. Zwar hat die Position durchaus einen Einfluss, aber wie Kinder sie leben, deuten und verarbeiten, hängt noch von anderen Dingen ab, sagt Jürg Frick, Psychologe an der Pädagogischen Hochschule in Zürich. Etwa wie die älteren Geschwister mit den jüngeren umgehen, oder welche Erfahrungen die Kinder in der Schule und mit Freunden machen. „Der eine fand sein Leben als Sandwichkind schrecklich, der andere sieht es als Vorteil, weil er weniger Erwartungen ausgesetzt war.“ Auch das
Verhalten der Eltern spielt eine wichtige Rolle. Wenn sich ein Kind dauerhaft zurückgesetzt fühlt, hat das mehr Auswirkungen auf die Persönlichkeit als die Position in der Geschwisterfolge.
Natürliche Sparringspartner
Denn neben Nähe prägt eine andere Qualität die Beziehungen von Geschwistern wie keine zweite: Rivalität. Drei Jahre lang hatte Lina die ungeteilte Aufmerksamkeit von Papa und Mama. Jetzt ist ihr kleiner Bruder da und konkurriert mit ihr um die elterliche Liebe und Aufmerksamkeit. Dem sogenannten „Entthronungstrauma“, das die Erstgeborenen erleben, wenn jüngere Geschwister auf die Welt kommen, wurde früher viel Bedeutung beigemessen. Heute bereiten Eltern das ältere Kind in der Regel mit viel Feingefühl auf die Veränderung vor und achten darauf, dass es trotz des Neuzugangs in der Familie nicht zu kurz kommt.
Bis zu einem gewissen Grad ist Rivalität unter Geschwistern wichtig und gesund. Sie hilft ihnen dabei, sich voneinander
abzugrenzen und eine eigene Identität auszubilden. Die Balgerei im Kinderzimmer ist normales Kräftemessen und gehört zur Entwicklung. Eingreifen sollte man, wenn es zu heftig wird und sich die Kontrahenten partout nicht beruhigen – und dabei möglichst als Klärungshelfer auftreten, nicht als Schiedsrichter.
Elternliebe gleich verteilen
„Rivalität hat immer zwei Seiten und ist nicht nur negativ“, sagt Frick. „Sie kann stimulierend sein und zu Leistungen
anspornen, aber eben auch dazu führen, dass sich Kinder abgewertet und benachteiligt fühlen.“ Insbesondere Geschwister gleichen Geschlechts, die altersmäßig nahe beieinanderliegen, neigen dazu, sich ständig zu vergleichen. Eltern sollten diese Neigung möglichst nicht noch verstärken. Etikettierungen wie „Der Große ist unsportlicher“ oder „Die Kleine hat zwei linke Hände“ stacheln das Konkurrenzverhalten weiter an. Wenig förderlich ist auch die Rollenaufteilung in die „vernünftigen Großen“ und die „kleinen Babys“.
„Eine gute Geschwisterbeziehung gedeiht am besten in einem wohlwollenden Familienklima, in dem jedes Kind als eigenständiges Wesen wahrgenommen wird“, sagt Jürg Frick. Dass jedes Kind seine besonderen Stärken und Schwächen hat, damit sollte man offen umgehen. Der eine Bruder kann vielleicht besser lesen und rechnen – ja, stimmt. Dafür ist der andere gut darin, Streit zu schlichten und Konflikte zu lösen. „Wichtig ist, dass jeder in dem, was er gut kann, gewürdigt wird“, so Frick. Optimal ist es, jedem Kind seine eigene Nische entsprechend seinen Vorlieben und Interessen zu schaffen, damit es gar
nicht erst zum direkten Vergleich kommt.
Offenheit ist auch der beste Ratgeber, wenn es um ein anderes, heikles Thema geht: wenn Vater oder Mutter ein Kind bevorzugen. Denn die Zuneigung ist fast nie gerecht verteilt, so sehr Eltern das auch beteuern mögen. „Das ist immer noch ein Tabuthema, weshalb es viele Eltern entweder gar nicht merken oder sich nicht eingestehen wollen“, berichtet Frick. Dabei sei es nur menschlich, dass einem – manchmal auch nur auch phasenweise – ein Kind nähersteht als das andere. Eltern können sich immer mal wieder fragen, ob sie gerade ein Kind bevorzugen, und dann bewusst gegensteuern, etwa mit einer Extraportion Vorlesen oder einer exklusiven Kuschelstunde.
Ein Kind dauerhaft zu bevorzugen, ist jedoch unfair und kann tiefe Narben hinterlassen. Mal ganz abgesehen davon, dass ungleich verteilte Liebe auch einen Keil zwischen Geschwister treibt. „Da muss man wirklich kritisch mit sich selbst sein und Nabelschau betreiben“, sagt Frick. Warum bevorzuge ich dieses Kind? Was hat das mit meiner Geschichte zu tun, mit meiner eigenen unbewältigten Geschwisterbeziehung? Nicht nur die zurückgesetzten Kinder haben es schwer, sondern auch die Lieblinge. Sie können als Erwachsene schlechter mit Konflikten umgehen, weil man ihnen als Kind immer ein Recht auf Extrabehandlung
eingeräumt hat.
kizz Info
Schon gewusst?
Geschwister erleben nie das Gleiche. In derselben Familie aufgewachsen zu sein bedeutet noch lange nicht, die Familie auf dieselbe Weise wahrgenommen zu haben. Der eine empfi ndet das Einschlaflied tröstlich, den anderen nervt es. Geschwister tragen das Erbgut derselben Eltern in sich und wachsen in derselben Umgebung auf. Trotzdem unterscheiden sie sich hinsichtlich Intelligenz und anderen Persönlichkeitsmerkmalen stärker als willkürlich auf der Straße aufgelesene Personen mit
entsprechendem Alter, entsprechendem Geschlecht und ähnlicher sozialer Herkunft.