Wann begannen die Zweifel? Vielleicht in dem Jahr, in dem ich mit meinen Kindern aus Versehen kein einziges Weihnachtsplätzchen gebacken habe. Es war zwar geplant, aber es passierte einfach nicht. Weil nie Zeit war? Oder weil ich es lustlos vor mir herschob? Allein der Gedanke, wieder vier verschiedene Sorten produzieren zu müssen, samt anschließender Küchengrundreinigung, verdarb mir schon im Vorfeld den Spaß. Ich hatte doch wirklich genug um die Ohren,
fand ich. Die Geschenklisten abarbeiten, die Nikolausstiefel füllen, den Adventskalender mit drei mal 24 kleinen
Süßigkeiten bestücken … arrrg! Wenn nur der Advent bald wieder vorbei wäre.
Die Keksdosen blieben leer. Und ich wurde nachdenklich. Sollte das hier nicht die besinnlichste Zeit des Jahres sein? Warum dann der permanente Druck, für wen, wer zwingt uns? Oder umgekehrt gefragt: Können wir unser Familienleben nicht irgendwie entschlacken und vereinfachen? Um am Ende – mit oder ohne Gebäck – entspannter und zufriedener zu sein?
Vom Druck lösen
Jahrzehntelang haben viele Mittelschichtfamilien nach der Devise gelebt: Mehr ist mehr. Größere Wohnungen, weitere Reisen, besseres Essen, wertvolleres Spielzeug. Mehr Freizeitaktivitäten, mehr Hobbys, mehr Frühförderung. Nebenbei üben moderne Eltern natürlich anspruchsvolle Berufe aus, sind ständig erreichbar, überzeugen modisch, sportlich, charakterlich. Perfektion ist Pflicht. Höchstleistung muss an allen Fronten erbracht werden. Die Hektik, die die Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts prägt, hat die Wohn- und Kinderzimmer erreicht.
Doch es regt sich Widerstand. Slow Parenting, langsame Elternschaft, heißt die Bewegung, die Familien zu mehr
Gelassenheit verhelfen will. Als Begründer gilt der kanadische Journalist und Autor Carl Honoré. Nach seinem Weltbestseller In Praise of Slow (2004) widmete er sein zweites Buch Kinder unter Druck. Rettet die Kindheit vor Schule
und Übereltern (2008) dem Leiden von Hochleistungsfamilien. Seine Recherchen, die ihn vor allem in wohlhabende englische und amerikanische Vororte führten, entlarven den unterschwelligen Erfolgsdruck, dem sich viele Familien unterworfen haben. „Das Ergebnis ist eine moderne Kindheit, die seltsam farblos erscheint – vollgestopft mit Aktivitäten, Leistung und Konsum, doch irgendwie auch leer wie eine billige Kopie“, schreibt Honoré. Eltern meinten es gut, hätten aber ständig das Gefühl, sich in einem Wettbewerb mit anderen Eltern zu befinden. Wer hat das bessere
Leben vorzuweisen, wer das tollere Kind? Statt nach ihrem eigenen Tempo und ihren eigenen Werten zu leben, eiferten sie trügerischen Vorbildern nach. „Von Schuldgefühlen gequält und voller Angst, das Falsche zu tun, kopieren wir die Alpha-Eltern auf dem Spielplatz.“
Mehr Zeit, mehr Raum
Die Folgen sind für Kinder und Eltern fatal. Zu wenig Zeit fürs Reden, Spielen, Kuscheln, Beisammensein. Geschwister
entfremden sich, weil sie sich kaum noch sehen. Kindern bleibt kein Raum für Entfaltung und Selbstbestimmung. „Wenn sich Erwachsene der Kindheit bemächtigen, verpassen die Kinder jene Dinge, die dem menschlichen Dasein Struktur und Sinn geben – die kleinen Abenteuer, die heimlichen Reisen, die Rückschläge und Missgeschicke, die herrliche Anarchie, die Augenblicke der Einsamkeit, ja sogar der Langeweile.“ Für Honoré sind die vielen Aktivitäten der Kinder der größte Stressfaktor: „Das außerschulische Terminkarussell kann die Familie in einen Teufelskreis treiben. Eltern nehmen ihren Kindern übel, dass sie so viel Zeit beanspruchen und so hohe Kosten verursachen. Und Kinder nehmen ihren Eltern deren Unmut übel.“ Hier müssen dringend die Ansprüche heruntergefahren werden, meint der Autor.
Doch sind Klavierunterricht oder Ballettstunden wirklich das zentrale Problem gehetzter Familien? Die Autorinnen
Nicola Schmidt und Julia Dibbern, die mit ihrem neuen Buch Slow Family (2016) den Slow-Parenting-Trend auch in Deutschland fester verwurzeln wollen, sehen die Ursachen differenzierter. Der Alltagsgalopp, der Eltern ungeduldig,
launisch und unzufrieden macht, kann viele Gründe haben. Spannungen in der Beziehung, Geldsorgen, Stress im Beruf, zu wenig Schlaf, zu hohe Ansprüche an sich und andere. Faktoren, die man nicht immer beeinflussen oder einfach abstellen kann. Deshalb stellen die beiden Mütter ihrem Ratgeber auch einen wichtigen Hinweis voran. „Slow Family ist bei uns ein Prozess. Es klappt mal besser und mal schlechter. Aber das macht nichts. Denn Perfektionismus ist nur ein weiterer apokalyptischer Reiter, der uns das Leben vergällt.“
Weg mit dem Perfektionswahn
Auf keinen Fall darf Slow Parenting ein weiterer Punkt auf der langen Todo-Liste von pflichtbewussten Eltern
werden. Nach dem Motto: Heute schon erfolgreich entschleunigt? Schmidt und Dibbern warnen ausdrücklich vor solchen Szenarien. „Wenn wir wissen, dass Kinder Natur brauchen, können wir uns natürlich total stressen. Wir können jeden Tag von der Arbeit weghetzen, die Kinder ins Auto packen und in den Wald fahren, damit sie auch ja genug Natur-Input für eine optimale Entwicklung kriegen. Abends kommen wir dann mit hungrigen, dreckigen Kindern nach Hause, stressen uns mit
Abendessen und Umziehen und Baden und ab ins Bett …“ Ihr Gegenvorschlag ist so erfrischend wie einfach: „Wenn wir mit unserem Kind stattdessen jeden Tag zehn Minuten lang am Wegesrand eine Ameise oder eine Blume ansehen, dann summiert sich das im Jahr auf 3650 Minuten.“ Auch das können wertvolle Naturerfahrungen sein.
Aber eigentlich geht es gar nicht um die Ameise oder die Blume. Es geht um die Zeit und die Stimmung. Slow Parenting
heißt: den Augenblick genießen und ehren. Nähe und Verbindungen mit der Familie herstellen. Indem man auch mal zu spät kommt. Oder gar nicht erst losgeht. „Denn wenn wir am Tag zu wenige Inseln der Ruhe, Momente des Innehaltens und Pausen haben, leidet unsere geistige Gesundheit“, warnen die Autorinnen.
Das eigene Tempo finden
Das Statistische Bundesamt misst seit Langem die sogenannte Zeitverwendung in Familien. Aktuell verbringen Frauen
in Deutschland im Schnitt 3:49 Stunden täglich mit Haushalt und Kinderbetreuung. Bei den Männern sind es 2:24 Stunden.
Schwer vorstellbar, dass da nicht irgendwo ein paar Minuten abgezwackt werden können. Denn eigentlich braucht es gar nicht viel, um die neue Langsamkeit auszuprobieren. „Manchmal sind es sogar nur wenige Sekunden“, schreiben Dibbern und Schmidt. „So manche Mutter oder so mancher Vater müssen ihrem Kind nur einen Moment aufmerksam ins Gesicht sehen, um zu merken: Kind ist müde, hat Hunger, braucht Kuscheln oder hat die Windel voll. Aber dieser Moment muss da sein.“
Und wenn die Erwachsenen wieder gelernt haben, mitten in der schlimmsten Alltagshektik bewusst innezuhalten und einen Gang herunterzuschalten, spüren sie auch ihre eigenen Bedürfnisse besser. Prioritäten setzen und Ballast
abwerfen fällt dann plötzlich gar nicht mehr schwer. Ich habe im Jahr nach dem ausgefallenen Adventsbacken einfach mal alles anders gemacht: Die Adventskalender für die Kinder fertig gekauft. Und nur eine Sorte Kekse gebacken. Alle zusammen haben wir sie stundenlang mit den quietschbuntesten Perlen verziert. Der Geschmack war uns egal. Wir hatten einfach nur jede Menge Spaß.
kizz Info
Immer schön langsam
„Slow“ ist im Trend, beim Essen, Reisen, Lesen, Arbeiten und eben auch bei der Kindererziehung. Langsam meint dabei keinesfalls, alles nur noch im Schnecken tempo zu erledigen, sondern steht für ein bewusstes Handeln und Erleben. Mit einem klugen Mittelmaß zwischen zu viel und zu wenig den Kindern Unterstützung geben, aber Freiräume lassen, Momente genießen und sich dem gesellschaftlichen Druck nicht beugen. Früher hieß das gesunder Menschenverstand, heute Slow
Parenting.