Entwicklungsschritte im eigenen Tempo:Kindheit ist kein Wettrennen

Eltern führen oft einen Konkurrenzkampf, wenn es um die Entwicklung ihrer Kinder geht. Das erzeugt Druck, obwohl Solidarität hilfreicher wäre

Kindheit ist kein Wettrennen
Ein gesunder Wettbewerb unter Kindern ist wichtig - aber bitte ohne Elterndruck! © Thinkstock, Lukashenko

Auf der Parkbank, im Wartezimmer des Kinderarztes, im Elterncafé des Familienzentrums: Den Blick auf das andere Kind kann sich kaum einer von uns verkneifen. Überall da, wo Eltern aufeinandertreffen und über ihre Kinder sprechen, schwelen Rivalitäten. Und sie fl ackern schon früh auf. Kaum ist das Leibesfrüchtchen zum ersten Mal per Ultraschall geortet und vermessen, beginnt das Wetteifern. Glücklich lächelnd vertraut die werdende Mutter ihrer ebenfalls schwangeren Freundin an, das Baby strample kräftig und sei schon zehn Zentimeter groß. Ungerührt gibt die Freundin zurück, ihres messe schon zwölf Zentimeter und habe bei der letzten Untersuchung sogar schon gewunken. Das Wachsen und Gedeihen, die Schlafgewohnheiten oder erstaunliche Talente sind gängige Disziplinen im modernen Fünfkampf der Elternschaft. „Wie, Paul ist noch nicht trocken? Also Lukas geht schon seit Monaten aufs Töpfchen!“, sind Sätze, mit denen sich Eltern gegenseitig auf die Palme bringen, auch wenn sie ihren Schlagabtausch unter vermeintlich mitfühlenden Bemerkungen tarnen. „Die Nächte müssen ja furchtbar für dich sein. Komisch, meine Anna schläft schon von Anfang an durch!“

Mütter sind anfälliger fürs Wetteifern, doch auch Väter sind davon nicht ausgenommen, besonders wenn sie ihre Söhne zum Fußballtraining begleiten. Wehe dem leicht verwirrten Fünfjährigen, der in die falsche Richtung losspurtet, dem schusseligen Stürmer, der seinen Einsatz verpasst, während Papa am Spielfeldrand brüllt: „Mach das Ding rein, verdammt noch mal!“

Der Drang, anderen eine Nasenlänge voraus zu sein, verdient einen genaueren Blick – auch, weil er so viele im Grunde glückliche Augenblicke trübt und so manche Beziehung empfindlich stört. Kinder stehen heute fortwährend auf dem Prüfstand, Eltern möchten verbissener als je zuvor alles richtig machen. Das haben ihnen Psychologen und Pädagogen schließlich jahrzehntelang eingetrichtert und sie für das Lebensglück ihres Kindes allein verantwortlich gemacht. Dabei werden Mütter viel stärker als Väter in die Pflicht genommen. Denn immer noch sind es in der Regel sie, die mehr Zeit mit den Kindern verbringen.

Kinder als Projekt

Wenn Eltern ihre Kinder vergleichen, drückt das auch ihre Unsicherheit aus. Ganz verkehrt ist das nicht: Sich mit anderen Eltern über den Nachwuchs auszutauschen, kann die eigenen Zweifel zerstreuen und helfen, mit der neuen Aufgabe fertigzuwerden. Der Austausch kann uns also stärken, aber nur mit Menschen, die sich mitfreuen und nicht ständig kritische Fragen stellen. Weil wir befürchten, etwas falsch zu machen, begeben wir uns häufig in irgendwelche unsinnigen Wettbewerbssituationen. Prahlen mit den größeren Fortschritten, die unser Kind macht. Und verfallen in blinden Aktionismus, wenn es den Anschein hat, das Kind bliebe hinter den anderen zurück. „Was, Leon kann schon schwimmen? Komm, wir machen deine Schwimmflügel auch mal ab!“ Ehrgeizige Eltern hat es schon immer gegeben. Überforderung durch Superansprüche jedoch ist neu. Die konstante Ermahnung, man könne einfach nie genug für sein Kind tun, hat sich dahingehend ausgewirkt, dass nun manche Eltern schlicht zu viel für ihre Kinder tun und dabei argwöhnisch auf die Konkurrenz schielen.

Mütter empfinden diesen Verantwortungsdruck auch deshalb besonders stark, weil das Kinderhaben längst nicht mehr als selbstverständliche, sondern als sehr bewusste Entscheidung gilt. Und schon quälen wir uns mit Selbstzweifeln, wenn unser Baby nicht in jeder Hinsicht der Norm entspricht. Das Gefühl individuellen Versagens lauert sprungbereit, wenn das Wunschkind nicht als Vorzeigeprojekt dasteht. Dabei hätte es doch nur gesund, hübsch, geschickt, musikalisch, sportlich und glücklich werden sollen!

Nicht zuletzt konkurrieren unterschiedliche Modelle von Mutterschaft miteinander. Hausfrauen, Teilzeitmütter, Vollzeit berufstätige Mütter – wer macht es richtig? Die Frau, die in den ersten Lebensjahren ihres Kindes ganz zu Hause bleibt, erbringt schon dadurch den Nachweis, wie ernst sie die Mutterschaft nimmt. Das wiederum setzt die berufstätigen Mütter unter starken Druck, denn diese müssen jetzt ihrerseits unter Beweis stellen, dass sie keine schlechteren Mütter sind. Ab wann und wie viel ein Kind fremdbetreut werden darf, wird dabei hart verhandelt, und es entstehen mitunter Glaubenskriege, die keiner gewinnen kann. Viele berufstätige Frauen quält ein permanentes schlechtes Gewissen, während die nicht erwerbstätigen Mütter unter mangelnder Anerkennung leiden, weil Arbeit und Karriere in unserer Gesellschaft einen hohen Stellenwert haben. Problematisch wird es immer, wenn Frauen ganz und gar in ihrer Mutterrolle aufgehen, die eigene Identität verlieren und ihre Ambitionen auf das Kind projizieren.

Jedes Kind in seinem Tempo

Kleine Kinder sind übrigens noch völlig frei von Konkurrenzdenken. Was kümmert es ein Krabbelkind, ob ein gleichaltriges in der Nachbarschaft mehr oder weniger Zähne hat als es selbst? Daran sollten wir uns ein Beispiel nehmen und uns nicht auf einen Wettstreit einlassen. Irgendjemandes Kind wird immer sportlicher, intelligenter, musikalischer oder hübscher sein. Übertriebener Stolz auf die Leistungen des eigenen Kindes ist kein Zeichen von Liebe, sondern deutet auf das Gegenteil hin. Lieber sollten wir uns klarmachen, warum wir unser Kind eigentlich so sehr lieben. Nicht weil es supermusikalisch oder hochbegabt ist, schneller lesen und schöner singen kann als das Nachbarskind. Es bringt unsere Augen zum Leuchten, weil es eben unser Kind ist. Die Überzeugung, dass ausgerechnet unser Baby das süßeste und klügste und liebste auf der Welt ist, teilen wir nämlich mit allen anderen Müttern und Vätern, die dasselbe von ihrem Baby glauben. Jedes Kind ist einmalig und hat sein eigenes Tempo, in dem es sich entwickelt. Man muss es mit sich selbst vergleichen und nicht mit anderen. Dann erkennt man, was es im letzten halben Jahr alles dazugelernt hat. Ob es mit elf oder fünfzehn Monaten laufen lernt, ist für seine spätere Entwicklung völlig gleichgültig. Auch Kinder, die erst mit fünf Jahren ein Fahrrad geschenkt bekommen, ein Jahr später zur Schule gehen und mit acht immer noch kein Instrument spielen, sind nicht unbedingt schlechter dran, sondern haben vielleicht nur entspanntere Eltern. Wenn das nichts ist

kizz Tipps

Konkurrenz - nein danke!

  • Bei den Großeltern, der Schwägerin oder den Freunden: Machen Sie von Anfang an klar, dass sie nicht an Konkurrenzgehabe interessiert sind.
  • Sprechen Sie nicht wertend mit dem eigenen Kind über die Leistungen der anderen. Reden Sie nicht abfällig über Kinder, die „zurück“ sind.
  • Weisen Sie Ihr Kind nicht auf die Fähigkeiten der anderen hin, wenn Sie es anspornen wollen („Lotta kann doch auch schon alleine die Schuhe anziehen, wieso klappt das bei dir nicht?“), und vergleichen Sie es vor allem nicht mit seinen Geschwistern („Philip konnte das in deinem Alter schon längst!“).
  • Bedenken Sie: Durchschlafen, Zahnen, Krabbeln, Sprechen und Trockenwerden sind mitnichten Disziplinen im modernen Fünfkampf, sondern Entwicklungsschritte, die jedes Kind in seinem eigenen Tempo bewältigt.
  • Sehen Sie die Schuleingangsuntersuchung nicht als Kinder-TÜV, bei dem man anschließend eine Mängelliste überreicht bekommt, sondern als Schutz, um Kinder nicht zu überfordern und möglichen Förder bedarf festzustellen.
  • Geben Sie nicht mit den Glanzleistungen Ihres Kindes an. Bedenken Sie einmal: Was ist mit schwer behinderten Kindern, die niemals mit anderen in einen Wettstreit treten können? Oder mit weniger privilegierten Kindern, deren Eltern kein Geld für Klavier- oder Ballettstunden und Aikidokurse aufbringen können?

kizz Info

Das sagt die Erzieherin

„Im Gespräch mit der Mutter eines Kindes, das gerade eingewöhnt wurde, erfuhr ich, dass sie über eine App seinen Entwicklungsstand abgleichen konnte. Sie war völlig verunsichert und fragte täglich, ob es normal sei, dass es noch nicht dieses oder jenes könne.

Besonders extrem vergleichen die Eltern ihre Kinder und beäugen die Entwicklung der anderen im letzten Jahr vor der Einschulung. Es ist, als müssten die Kinder noch einmal einen letzten Drill überstehen.“

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