Meine Tochter, das hatte sich Elsa Niemeyer geschworen, soll von Beginn an ohne Rollenklischees aufwachsen. Bewusst ignorierte sie Prinzessinnen-Bettwäsche und Schminkspiegel und kaufte stattdessen Hosen und eine Holzeisenbahn. Was aber war der sehnlichste Wunsch der dreijährigen Lisa? Glitzerperlen und eine pinke Pferdekutsche.
Eltern, die bewusst vermeiden wollen, dass sich ihre Sprösslinge zu süßen Prinzessinnen oder kleinen Mackern entwickeln, müssen feststellen, dass diese Versuche scheitern. Irgendwann kommen die meisten Mädchen in die Rosaphase und sitzen in der Kita am Basteltisch, während die Jungen in der Bauecke Steine stapeln oder als Superhelden gegeneinander kämpfen.
Rollenbilder sind omnipräsent
Warum sich Jungen und Mädchen unterschiedlich verhalten, darüber gibt es immer noch kontroverse Ansichten. Dass es nicht allein die Natur ist, die Jungen wild und Mädchen zurückhaltend macht, ist inzwischen unstrittig. Kultur, Umwelt
und Erziehung haben entscheidenden Einfluss darauf, was es für uns bedeutet, Mann oder Frau zu sein.
Welches Geschlecht sie haben, wird Kindern etwa im Alter von zwei Jahren klar. In der darauffolgenden Zeit entwickeln
sie ein grundlegendes Verständnis dafür, welches Verhalten in unserer Gesellschaft für welches Geschlecht angemessen ist, also welche Eigenschaften Männer und welche Frauen ausmachen.
Die Eltern spielen bei diesem Prozess eine wichtige Rolle. Jungen ahmen ihren Vater nach, Mädchen die Mutter. Aber
Kinder lernen auch aus Erfahrungen im Alltag, etwa im Kindergarten, aus Büchern, auf der Straße, beim Fernsehen oder aus der Werbung. Von Geburt an erleben sie eine Welt, die in männlich und weiblich eingeteilt ist.
„Die Vermittlung von Geschlechternormen ist ein allgegenwärtiger und zum größten Teil unbewusster Prozess“, sagt die Geschlechter soziologin Anne-Laure Garcia von der Technischen Universität Dresden. Selbst Eltern, die Wert auf die Gleichbehandlung von Jungen und Mädchen legen, geben Klischees weiter, ohne es zu merken (siehe auch Interview). Dies sei einer der Gründe, warum sich grob vereinfachende Vorstellungen über männliche und weibliche Eigenschaften – Jungen sind offensive Draufgänger, Mädchen frühreif und fleißig – immer noch hartnäckig halten.
Spielräume zugestehen
Hinzu kommt, dass Kinder sich auch untereinander in ihrem Rollenverhalten stark bestätigen. Ab dem Alter von etwa
drei bis vier Jahren beginnt die Phase der gleichgeschlechtlichen Cliquen, die sich in der Grundschulzeit noch verstärkt.
Die Freunde haben einen starken Einfluss darauf, was als akzeptabel gilt und was nicht. Über Jungs, die Röcke tragen, wird gekichert. Mädchen, die raufen, werden ausgegrenzt.
Das alles macht eine geschlechtsneutrale Erziehung praktisch unmöglich. „Die Vorstellung, man könne Mädchen oder Jungen auf eine bestimmte Geschlechterrolle ‚hinerziehen‘, funktioniert nicht“, sagt Holger Brandes, Professor für Psychologie und Leiter der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit in Dresden. Brandes rät Eltern zu Gelassenheit und zu einem entspannten Umgang mit dem Thema. „Wir leben in einer Gesellschaft, in der zum einen die Geschlechterstereotype noch vorhanden sind, sich aber gleichzeitig die traditionellen Rollen auflösen. Was typisch männlich, was typisch weiblich ist, kann man nicht mehr sagen. In dieser widersprüchlichen Welt müssen Kinder ihre eigenen Positionen finden.
Dazu brauchen sie in erster Linie Entscheidungsspielraum.“
Zwar beobachten Wissenschaftler, dass Mädchen untereinander mehr kooperieren und hilfsbereiter sind als Jungs. Die wiederum sind rivalisierender als Mädchen, gehen körperlichen Konfrontationen weniger aus dem Weg und setzen sich eher Risiken aus. „Aber das sind Nuancen. Es bedeutet nicht, dass Mädchen nicht zum Wettkampf oder Jungen nicht zur Empathie fähig sind“, sagt Brandes.
Eltern und ErzieherInnen müssen Kindern den Freiraum geben, alle Seiten ihrer Persönlichkeit zu entfalten. Das heißt, vereinfacht ausgedrückt: Mädchen brauchen Perlen zum Auffädeln ebenso wie Bäume zum Klettern. Jungen den Bolzplatz, aber auch die Kuschelecke. Insbesondere das Bedürfnis nach Bewegung sei bei beiden Geschlechtern gleich stark ausgeprägt und komme heutzutage bei allen Kindern zu kurz. Jungen fordern zwar das Herumtoben tendenziell stärker ein als Mädchen. „Aber da spielt die häusliche Sozialisation eher eine Rolle als die Natur“, sagt Brandes.
Eigene Klischees hinterfragen
Eltern sollten sich vielmehr an den Bedürfnissen jedes einzelnen Kindes orientieren als an seinem Geschlecht: Was sind seine Stärken und Fähigkeiten? Wie können wir es dabei unterstützen, an seinen Schwächen zu arbeiten? Und was hat das alles mit unserem Frauen und Männerbild zu tun? Noch immer sehen es manche Väter und Mütter der Tochter eher nach, wenn sie nicht so sportlich ist, finden es jedoch komisch, wenn der Sohn stricken lernen möchte. Dabei fördern Mannschaftssportarten das Durchsetzungsvermögen und die Beschäftigung mit Nadel und Faden ist für die Feinmotorik gut.
„Problematisch wird es dann, wenn Eltern ihren Kindern etwas verbieten, weil es nicht zu ihrem Rollenbild passt“, sagt der Psychologe Brandes. Warum darf sich der Sohn keine rosa Ballerinas als Hausschuhe für die Kita aussuchen? Wieso die Tochter die Haare nicht raspelkurz schneiden? Sätze wie „Das ist nichts für Jungs“ oder „Das ist typisch Mädchen“ festigen ein bestimmtes Rollenbild und verhindern, dass sich die Kinder frei ausleben können.
Elsa Niemeyer hat die Herzenswünsche ihrer Tochter übrigens erfüllt. Zu Weihnachten gab es Glitzerelfenflügel und eine rosa Kutsche. Das ist jetzt viele Jahre her. Lisa geht inzwischen in die Grundschule und findet Pink total doof.
„Gleichberechtigung vorleben“
kizz sprach mit Dr. Anne-Laure Garcia, Soziologin am Lehrstuhl für Mikrosoziologie der Technischen Universität Dresden
Wie geben Eltern Geschlechterstereotype weiter?
Das erfolgt meistens unbewusst und fängt schon bei Neugeborenen an. So beschreiben Eltern nach der Geburt männliche Babys eher als „groß“ oder „kräftig“, weibliche Babys als „klein“ und „schön“. Und viele Mütter merken nicht, dass sie ihren Töchtern mehr Selbstbeherrschung vermitteln als ihren Söhnen, etwa indem sie erwarten, dass sie früher trocken werden oder auf die jüngeren Geschwister aufpassen.
Seit wann tragen Mädchen Rosa und Jungen Blau?
Das kam erst Anfang des 20. Jahrhunderts auf. Bis dahin trugen Jungen wie Mädchen Kleidungsstücke aus weißer Baumwolle, die man gut waschen konnte. Überhaupt kann man an der Kleidung sehr schön erkennen, wie sich Geschlechternormen langfristig wandeln. An Schuhen mit hohen Absätzen, heute ein Symbol für Weiblichkeit, konnte man
ursprünglich die Standeszugehörigkeit ablesen. Solche Schuhe konnten nur Menschen tragen, die nicht körperlich arbeiten mussten.
Was können Eltern tun, damit sich Rollenmuster nicht weiter verfestigen?
Ein expliziter Gleichheitsdiskurs hat kaum Einfluss, wenn die Gleichberechtigung nur rhetorisch bleibt. Was Kinder beobachten, ist: Wer ist für die Wäsche zuständig? Wer wechselt die Windeln? Wer repariert das Auto? Wer trägt Röcke, Make-up und Schmuck? Eltern können die Zweigeschlechtlichkeit unserer Gesellschaft nicht abstreiten und noch weniger „abschleifen“. Sie können aber die Gleichberechtigung innerhalb des Paares vorleben – zum Beispiel durch eine Elternzeit, die sich Väter und Mütter zu gleichen Teilen aufteilen.