Das Sitzkarussell auf dem Spielplatz ist beliebt. Eine Gruppe von Kindern hat es besetzt und dreht begeistert
Runde um Runde. Die kleine Helene beobachtet sie aus sicherer Entfernung. „Möchtest du auch mal?“, fragt ihre Mutter. Helene nickt. „Dann geh doch hin und sag das den anderen.“ Helene zögert. Ihre Mutter schiebt sie sanft an den Schultern Richtung Karussell. „Los, trau dich doch!“
Für andere Kinder mag es völlig normal oder sogar ein Ansporn sein, sich einen Platz auf dem begehrten Spiel gerät zu ergattern. Für Kinder wie Helene ist es eine Pein. Situationen, in denen alle Augen auf sie gerichtet sind und sie etwas sagen oder tun soll, erfüllen sie mit großem Unbehagen. Wenn sie die Tante oder den Opa begrüßen soll, vermeidet sie Blickkontakt, murmelt nur ein leises Hallo und versteckt sich hinter ihrer Mutter. Ungewohntes macht ihr Angst; auf der Taschenlampentour neulich im Naturkundemuseum hat sie angefangen zu weinen, während alle anderen aus ihrer Kitagruppe laut lachend durch die Räume stromerten.
Es ist Teil der Persönlichkeit, ob jemand eher vorsichtig und ängstlich ist oder offen und unbefangen auf fremde Menschen zugeht. Bei schüchternen Menschen ist das Angst- und Vorsichtszentrum im Gehirn, die sogenannte
Amygdala, besonders aktiv. Wobei man hier genau hinschauen muss, denn schüchtern und introvertiert sind zwei unterschiedliche Charakterzüge. „Schüchterne Kinder haben vor allem Angst davor, nicht akzeptiert zu werden; ihre negative Selbstbeobachtung ist stark ausgeprägt und oft lähmt sie die Vorstellung, was andere von ihnen denken könnten“, sagt der Erziehungswissenschaftler Georg Stöckli, der an der Universität Zürich lange zu dem Thema geforscht hat.
Manche mögen es leise
Introvertierte Kinder dagegen, erklärt der inzwischen emeritierte Wissenschaftler, haben einfach weniger Interesse an sozialen Kontakten, weil sie stark auf ihre eigene Gedankenwelt fokussiert sind. Äußere Reize, etwa
große Gruppen oder eine laute Umgebung, überfordern sie schnell. Nach außen haben beide Typen allerdings oft die gleiche Wirkung, weil sie sozial herausfordernden Situationen und Konflikten lieber aus dem Weg gehen. Und natürlich gibt es Überschneidungen, ein introvertiertes Kind kann auch schüchtern sein.
In unserer lauten Gesellschaft, in der Außenwirkung und Selbstdarstellung so wichtig geworden sind, gelten beide Charakterzüge nicht unbedingt als willkommen. Das mag ein Grund dafür sein, dass die meisten Eltern nicht gut damit zurechtkommen, wenn ihre Kinder zurückhaltend sind. Oft überreden sie ihre Kinder, sich Situationen zu stellen, vor denen diese Angst haben, so wie die Mutter von Helene. Das ist aber wenig hilfreich, sagt Experte Stöckli, denn damit signalisiert man dem Kind: Du bist nicht richtig. Du sollst lieber anders sein. „Viele dieser Eltern sagen: Ich war als Kind selbst schüchtern. Sie erkennen in ihrem Kind eigene Eigenschaften von früher, können aber damit nicht umgehen“, sagt Stöckli. Er rät Eltern, sich zu fragen, wie sie sich selbst als Kind in solchen Situationen gefühlt haben und was ihnen geholfen hätte. Ständig daran erinnert zu werden, wie ängstlich man sei oder Vergleiche mit anderen Kindern, „die sich das ja auch trauen“, sicher nicht.
Was Eltern ihrem Kind hingegen vermitteln können, ist: Du kannst mutig sein, wenn du willst. Dazu gehört, die
Momente wahrzunehmen, in denen das Kind seine Hemmungen von sich aus überwindet. Das können ganz kleine Situationen sein, etwa wenn ein schüchternes Kind auf ein anderes zugeht und ihm etwas anbietet. „Dann merkt man:
Mein Kind ist mutiger als ich gedacht habe – und wahrscheinlich auch als es selbst denkt. Das kann man dann auch
genauso sagen: Du bist mutiger als du denkst!“, rät Stöckli.
Den Blick auf die Stärken lenken
„Das Wichtigste, was wir einem leisen Kind mitgeben können, ist die Idee: Du bist erst mal gut so, wie du bist“, sagt Sylvia Löhken. Die Kommunikationsberaterin und promovierte Linguistin befasst sich intensiv mit den Stärken und Hürden intro- und extrovertierter Menschen; ihre Bücher dazu sind Bestseller und in viele Sprachen übersetzt. Sie plädiert dafür, die Stärken der leisen Kinder in den Blick zu nehmen und mit ihnen zusammen zu üben, wie sie in sozialen Situationen gut klarkommen können.
Denn auch wenn es bereits bei der Geburt in unserem Gehirn angelegt ist, ob wir eher draufgängerisch oder
zurückhaltend sind, so lassen sich die Charaktereigenschaften in ihrer Ausprägung beeinflussen. Leise und
schüchterne Kinder können lernen, mit für sie stressigen Situationen umzugehen. Es gibt inzwischen verschiedene
Trainingsprogramme, die schüchternen Kindern helfen, Ängste abzubauen, auch Georg Stöckli hat eines entwickelt.
Wenn die Angst vor Ablehnung und Kritik so stark ist, dass Kinder bestimmte Situationen vermeiden, sollten Eltern auch über einen Gang zum Therapeuten nachdenken. Oft wird das erst im Schulalter sichtbar, etwa wenn das Kind sich nicht am Unterricht beteiligt oder sich nicht traut, andere Kinder anzusprechen, mit denen es gerne befreundet sein will. Ein wichtiges Anzeichen dafür ist, dass das Kind selbst stark unter seiner Gehemmtheit leidet. Die allermeisten schüchternen Kinder brauchen aber nur eines: eine feinfühlige Umgebung, die sie ermutigt und unterstützt.
kizz Interview
Leise Kinder sind oft Spätzünder
kizz sprach mit der Kommunikationsberaterin Sylvia Löhken über introvertierte Kinder
Frau Löhken, manche Eltern kommen nicht gut damit zurecht, wenn ihre Kinder leise und zurückhaltend sind. Was raten Sie ihnen?
Sich selbst zu befragen: Was ist denn an meinem leisen Sohn, meiner leisen Tochter toll? Das Selbstbild von Kindern wird ja vom Fremdbild der Eltern geprägt. Wenn ein leises Kind immer nur lernt, ich bin nicht laut genug, setzt sich das im Erwachsenenalter fort. Dabei haben leise Kinder so viele Stärken. Sie können oft stundenlang an einem Bild malen, sich geduldig etwas erarbeiten und sich gut alleine beschäftigen. Viele sind zudem gute Beobachter und sehr einfühlsam. Wir sollten diese positiven Seiten mehr würdigen, anstatt immer nur auf das zu schauen, was fehlt.
Zurückhaltende Kinder geben in Konflikten oft nach, wie können Eltern sie ermutigen?
Es hilft nichts, ständig einzugreifen und zu regulieren. Das löst gerade bei introvertierten Kindern noch mehr
Stress aus. Besser ist es, sie aus der Situation herauszunehmen und dann darüber zu reden: Wie hast du dich gefühlt, als sich die anderen vorgedrängelt haben? Was könntest du das nächste Mal anders machen? Oft finden introvertierte Kinder selbst gut heraus, was sie und andere brauchen.
Leise Kinder haben oft ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Alleinsein und bewegen sich ungern in großen „Rudeln“. Wie geht man damit um?
Indem man ihnen den Raum zugesteht und dafür sorgt, dass sie sich regelmäßig zurückziehen können, auch auf Kitafahrten oder an Kindergeburtstagen. Da kann man sich auch mit den ErzieherInnen oder Gastgebern absprechen.
Aber Kinder müssen ja auch lernen, mit Situationen, in denen viele Reize auf sie einprasseln, umzugehen.
Ich rate immer, über die Zeit zu regulieren. Beispiel Kindergeburtstag: Man kann Kindern anbieten, sie zu begleiten und eine Weile dabei zu sein oder sie früher abzuholen. Es gibt auch die Möglichkeit, das Geburtstagskind an einem anderen Tag zu sich einzuladen. Wichtig ist es, Alternativen anzubieten. Es hilft auch, mit dem Kind zu üben, sein Bedürfnis positiv zu formulieren: „Das war schön, aber jetzt ist es genug und ich will nach Hause“.
Eltern sorgen sich, ob ihre leisen Kinder später gut durchs Leben kommen. In der Schule fallen sie oft weniger auf, werden unterschätzt und bekommen schlechte mündliche Noten.
Ja, das ist leider oft der Fall und auch ungerecht. Eltern können hier gegensteuern, indem sie mit den Lehrern im Gespräch bleiben. Und sie können darauf vertrauen, dass viele introvertierte Kinder Spätzünder sind und ihre Zeit noch kommt. Wenn sie älter werden, kommen ihre starken Seiten zum Tragen: ihre Beharrlichkeit, ihre Fähigkeit
zur Konzentration, ihre Kompetenz, schriftliche Aufgaben zu lösen. Leise und zurückhaltende Menschen, die mit sich selbst im Reinen sind, strahlen als Erwachsene oft eine besondere Stärke und Ruhe aus und sind wichtige Säulen in der Familie und im Arbeitsteam.