Fremde Kinder kann man objektiv betrachten. Doch das eigene Kind finden alle Eltern besonders hübsch. Ist es kräftig, haben sie das gute Gefühl, dass es robust ist, gewappnet fürs Leben mit einer Schutzschicht. Der „Babyspeck“ wächst sich doch bestimmt von alleine aus? Dass das Kind nicht genug zu essen bekommen könnte, bleibt eine der mütterlichen Urängste. Auch die Großeltern, die vielleicht als Kinder in der Nachkriegszeit echten Hunger erlebt haben, füttern fleißig zu.
Doch die Zeiten haben sich geändert und die Gefahr, zu wenig zu essen zu bekommen, ist längst ins Gegenteil umgeschlagen. In Deutschland bringt bereits im Kindergarten jedes zehnte Kind zu viel Gewicht auf die Waage.
Die Zahl übergewichtiger Schulkinder wächst weiter; mit dem Alter der Kinder steigt auch der Anteil der betroffenen Jungen und Mädchen. Unter Teenagern ist bereits jeder Sechste übergewichtig, wie die vom Robert-Koch-Institut veröffentlichten KiGGS-Studie zeigt.
Fakten schaffen Klarheit
Übergewicht zu erkennen ist tatsächlich nicht so einfach. Wer sein Kind Tag für Tag erlebt, tut sich schwer
damit, eine Entwicklung wahrzunehmen, die vor Jahren begonnen hat. Maria Karathana ist Kinderärztin und sagt: „Aus einer Elternbefragung, die das Gesundheitsamt Frankfurt zwischen 2010 und 2013 durchgeführt hat, ergab sich: Fast ein Viertel aller Eltern, deren Kinder adipös, also stark übergewichtig sind, schätzen ihr Kind als normalgewichtig ein. Und viele Eltern von normalgewichtigen Kindern glauben, ihr Kind wäre untergewichtig.“
Statt rosaroter Elternbrille hilft nur eines: das Kind auf die Waage zu stellen und die Größe zu messen. Doch anders als bei Erwachsenen ist die Frage, was „normal“ ist, nicht mit dem Body Mass Index (BMI) alleine zu beantworten. Normalgewicht ist bei Kindern vom Alter und den alterstypischen Wachstumskurven abhängig. Die beste Auskunft kann – neben dem Kinderarzt – ein speziell für Kinder programmierter BMI-Rechner im Internet geben (siehe
Webtipp). Beispiel: Das Gewicht eines sechsjährigen Kindes mit 1,25 Metern Körpergröße sollte sich zwischen 22 und knapp 28 Kilogramm bewegen.
Man kann darüber streiten, ob Übergewicht eine Krankheit ist oder ob es nur krank macht. Sicher ist, dass
übergewichtigen Kindern und ihren Familien Hilfe zusteht. Der wichtigste Ansprechpartner dafür ist der Kinderarzt. Von Diäten ist abzuraten, denn übergewichtige Kinder sollen nicht abnehmen, sondern nur ihr Gewicht halten, während sie wachsen. Das lässt sich am besten durch positive Veränderungen im Lebensstil erreichen, ohne strenges Kalorienzählen.
Wie entsteht Übergewicht?
Kinder sind verschieden und das ist gut so. Ob ein Kind groß gewachsen oder zierlich gebaut ist, ist größtenteils genetisch bedingt. Auch für den Stoffwechsel eines Kindes spielen die Gene eine Rolle. Wie gut es die Nährstoffe aus der Nahrung verwerten kann und wie viel es davon beim Toben verbraucht, ist veranlagt. Und es gibt noch mehr Einflüsse, die sich im Nachhinein nicht ändern lassen. So begünstigen Schwangerschaftsdiabetes, Rauchen
während der Schwangerschaft und Flaschennahrung statt Stillen späteres Übergewicht. Eine Neigung kann also
angeboren sein, aber das bedeutet noch lange nicht, dass das Kind zwangsläufig moppelig wird.
Wenn ein Kind zu viel Gewicht auf die Waage bringt, hat das einen einzigen Grund: Es nimmt beim Essen mehr Kalorien zu sich, als es durch den Grundumsatz, Bewegung und Sport verbraucht. Die Ursachen können ganz vielfältig sein. Wird ein Kind ständig zum Essen genötigt, will es gefallen – und isst. Wenn Süßigkeiten unbegrenzt zur Verfügung stehen, greifen Kinder zu, wieder und immer wieder. Und wenn Kinder ständig mit elektronischen Geräten spielen dürfen, empfinden sie irgendwann den Zustand der „Zimmerkäfighaltung“ als normal.
Vorsicht, versteckte Kalorien
Gezuckerte Getränke wie Limonade oder Eistee gelten als Dickmacher schlechthin. Unverdünnte Säfte liefern zwar Vitamine, jedoch die gleiche Menge an Zucker. Besser als beides, und viel billiger, ist Wasser als Durstlöscher.
Industriell hergestellte Lebensmittel und Fertigmahlzeiten enthalten meist viel Zucker und Fett – denn das macht
eine Mahlzeit „lecker“, selbst wenn die Inhaltsstoffe minderwertig sind. Aber wer hat heutzutage die Zeit, jeden Tag frisch und vollwertig zu kochen? Um dann zu hören: „Das schmeckt nicht, das esse ich nicht“? Bestimmt gibt
es Kinder, die sich für Rosenkohl begeistern, doch bei der überwiegenden Mehrheit punkten Eltern mit Pommes,
Schnitzel und quietschrosa Joghurt voller Schokolinsen. Solche Dinge sollte es auch geben dürfen – manchmal. Aber
eben nicht ständig. Der Trick besteht darin, ungesunde Lieblinge nur selten einzukaufen. Was nicht da ist, kann
nicht gegessen werden. Die Drohung „Dann esse ich gar nichts!“ müssen wir aushalten, auch wenn es schwerfällt.
Die Lebensmittelindustrie tut einiges dafür, den Eltern das Leben noch schwerer zu machen. Wenn Feen von
Fertigbackmischungen winken und Monster von Süßgetränken lachen, schlagen Kinderherzen höher. Der gesunde Menschenverstand sagt den Eltern, dass der Inhalt voll Zucker, Fett und künstlicher Aromen stecken muss. Wer sichergehen möchte, studiert die Nährwertangaben und probiert die Produkte selbst.
Essen am Tisch, Bewegung im Alltag
Die meisten Kalorien werden nebenbei verzehrt. Wenn Kinder von einem Film, Buch, Hör- oder Computerspiel gefesselt sind, während sie essen, merken sie nicht, wenn sie satt sind, und essen weiter.
Gemeinsame, feste Mahlzeiten am Tisch sind deshalb eine entscheidende Maßnahme gegen Übergewicht.
Ein anderer unerlässlicher Regler ist die Bewegung. Gut, wenn Kinder regelmäßig Sport im Verein machen. Noch
wichtiger ist es, tägliche Bewegung in den Familienalltag einzubauen. Kurze Wege können zu Fuß, längere später
mit dem Fahrrad bewältigt werden. Der elterlichen Fitness tut dies ebenfalls gut. Denn übergewichtige Kinder sind
oft Teil einer übergewichtigen Familie, und es sind die gleichen schlechten Angewohnheiten, die Kinder und Eltern in die Breite gehen lassen. Auch in anderer Hinsicht kann das familiäre Umfeld entscheidend sein: Kinder aus Familien mit niedrigem Sozialstatus oder mit Migrationshintergrund sind deutlich häufiger von Übergewicht betroffen.
Macht Schule dick?
Sportmediziner der Universität Mainz haben festgestellt, dass besonders viele Kinder in einem engen Zeitfenster rund um das erste Schuljahr zunehmen. Denn Schulkinder sitzen viel und bewegen sich wenig. „Schule war schon immer so. Und trotzdem gab es vor 20 Jahren deutlich weniger übergewichtige Kinder“ , sagt Professor Perikles Simon. Er ist davon überzeugt, dass sich nicht die Bedingungen in der Schule verändert haben, sondern die Gewohnheiten,
welche die Kinder in den neuen Lebensabschnitt mitbringen. „In der Schule müssen Kinder still sitzen und sich konzentrieren. Das ist schlichtweg Stress. Und den sollten die Kinder während des Rests des Tages kompensieren
können: indem sie in den Pausen toben und sich am Nachmittag auspowern. Wer sich als Vorschulkind nicht angewöhnt hat, aktiv zu sein, bekommt als Schulkind ein Gewichtsproblem“, sagt Simon.
Diese Aufgabe sieht er nicht allein bei den Eltern. „In Zeiten steigender Ganztagsbetreuung werden die Erzieher
im Kindergarten immer wichtigere Bezugspersonen. Aber überdurchschnittlich viele Erzieher sind selbst übergewichtig.“ Insbesondere das persönliche Bewegungsverhalten der pädagogischen Fachkräfte weist einen klaren Bezug zum Gewicht der betreuten Kinder auf, haben die Mainzer Forscher herausgefunden.
Risiko virtuelle Welt
Aber warum bringt gerade der Schuleintritt das sprichwörtliche Fass zum Überlaufen? Nicht selten sind die elektronischen Geräte schuld, die mit Beginn der Grundschule ins Kinderzimmer einziehen, so die Erfahrung von Lehrern. Wer stundenlang daddelt, statt draußen zu toben, und nachts unter der Bettdecke heimlich spielt, statt zu schlafen, legt die besten Voraussetzungen für Übergewicht. Denn hoher Medienkonsum und wenig Schlaf begünstigen
Übergewicht, das belegen Studien. Und vielleicht ist auch hier die trügerische Elternbrille beteiligt. Die fokussiert jetzt nämlich auf schulische Leistungen und verliert die körperliche Entwicklung aus dem Blick. Wichtiger als Pauken für den Mathetest ist aber manchmal der Spielplatzbesuch. Ohne Schokoriegel für den Hunger zwischendurch.
kizz Webtipp
Bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung fi nden Sie weiterführende Informationen sowie einen BMI-Rechner für Kinder, www.bzga-kinderuebergewicht.de
kizz Interview
Von Veränderungen profitieren alle
kizz sprach mit Maria Karathana, Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin beim Gesundheitsamt der Stadt Frankfurt a. M.
Welche Gemeinsamkeiten gibt es bei Kindern mit Übergewicht?
Fast alle berichten von einem hohen Medienkonsum, verbringen also viel Zeit mit Fernsehen oder Computerspielen. Wenige machen organisiert Sport, das heißt, es fehlt ihnen sowohl die Bewegung als auch das Miteinander eines Vereins. Ein Teil davon (20 Prozent) sind Einzelkinder. Außerdem löschen sie meist mit Süßgetränken statt mit Wasser den Durst. Zudem lässt sich feststellen, dass es eine Häufung bei Familien mit Migrationshintergrund gibt. In Ländern wie der Türkei, den Maghreb-Staaten oder auf dem Balkan ist das Körperideal kulturell bedingt ein
anderes: Dort wünscht man sich kräftige Kinder.
Warum ist Übergewicht bei Kindern besonders bedenklich?
Weil aus ihnen meist übergewichtige Erwachsene werden. Und zwar häufig Erwachsene mit Gelenkschäden, Herz-Kreislauf- Problemen, einem gestörten Fettstoffwechsel und Diabetes. Übergewicht kann viele schwere Folgeerkrankungen verursachen. Und übergewichtige Kinder können später vielleicht nicht jeden Beruf ergreifen. Oder sie tun sich schwer damit, soziale Kontakte zu knüpfen.
Was muss sich ändern?
Viele Interventionsprogramme für übergewichtige Kinder greifen erst mit dem Ende des Grundschulalters. Aber das ist viel zu spät, eigentlich muss man im Kindergarten ansetzen. Da sollten sich Kinder an regelmäßige Bewegung und gesunde Ernährung gewöhnen und die Eltern ihren Lebensstil überdenken. Häufi g sind ja die Kinder nicht die einzigen mit einem Gewichtsproblem. Wenn eine Familie gemeinsam ihre Ernährungs- und Bewegungsgewohnheiten verändert, profitieren alle.
Gute Gewohnheiten gegen Übergewicht
Keine Selbstbedienung bei Süßigkeiten. Naschen gehört zum Kindsein – aber in Maßen. Feste Regeln, wann und wie viel Süßes von den Eltern herausgegeben wird, helfen gegen ewige Diskussionen.
Viel Getreide und Gemüse, wenig Zucker und Fleisch. Der Ernährungskreis der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e. V. (www.dge.de) bietet einen guten Anhaltspunkt dafür, wie sich eine gesunde Ernährung zusammensetzen
sollte.
Rohkost vorweg. Manchmal müssen es eben Pommes, Chicken Nuggets oder Pizza sein. Steht vorher geschnittene
Paprika, Gurke oder Karotte auf dem Tisch, wird weniger Junkfood gegessen – das verbessert die Energie- und
Vitaminbilanz.
Mit den Kindern kochen (manchmal). Ja, es kostet Nerven, mit „Hilfe“ der Kinder aus frischen Zutaten zu kochen.
Aber Selbstgekochtes probieren Kinder lieber und gesünder ist es sowieso. Vielleicht ist dafür am Wochenende Zeit?
Öfter vergleichen und erst dann entscheiden. Die Nährwertangaben auf Lebensmitteln sind gar nicht so kompliziert. Wie viele Kalorien hat diese Dose Erdnüsse? Und welche Menge Zucker ist in welchem Joghurt?
Kein Süßstoff für Kinder. Vorsicht vor manchen zuckerreduzierten Lebensmitteln (zum Beispiel Ketchup). Wurde
der Zucker durch Süßstoff ersetzt? Das sollte für Kinder tabu sein. Denn die erlaubten Höchstmengen orientieren
sich an Erwachsenen und wegen der intensiven Süße erhöht sich bei den Kindern zudem die Geschmacksschwelle für süß.
Runter von der Couch und raus ins Leben. Etwas mit der ganzen Familie zu unternehmen, bewegt ganz viel.
Ein gutes Vorbild. Das wollen wir alle sein. Weil wir das aber nicht immer schaffen können, am besten ungesunde
Ausnahmen in den Abend verlegen, wenn die Kinder im Bett sind.