Schaut mal, was ich gefunden habe!“ Aufgeregt hält Leoni* aus der Montessori- Waldkita in Schweinfurt eine Schnecke hoch und zeigt sie den anderen Kindern. Rasch ist sie von ihren Altersgenossen umringt. Eigentlich wollte die Gruppe Müll aufstöbern und mit einem Tablet fotografieren, doch jetzt hat die Schnecke ihr Interesse geweckt. Leonis Freundin Anna* hält das Tablet in den Händen und die Kinder suchen mit der Google- Sprechfunktion nach Bildern und Informationen zum Tier.
„Die Kinder nutzen das Gerät wie eine Lupe, wenn sie das Gelände erkunden“, erzählt Kita-Leiterin Daniela Anton. Der Prozess schärfe die Aufmerksamkeit. „Wie kleine Forscher verwenden sie in Begleitung einer Erzieherin Tierlexika und Tablet, um zu recherchieren, und erweitern so ihr Wissen und den Wortschatz“, sagt sie. „Wir merken, dass Lernen mit Freude und Bewegung in der Natur auch mit digitalen Medien prima funktioniert.“ Wichtig sei aber auch, dass sich die Kinder zunächst selbst Gedanken zu einem Thema machen und erst danach recherchieren. „Es geht nicht um Sofortlösungen aus dem Internet. Die Kinder sollen vielmehr weiterhin eigene Vorstellungen entwickeln und formulieren.“
Einbinden statt ausklammern
Die Tablets werden auch eingesetzt, um Lernfortschritte zu dokumentieren. Mit vier weiteren Kitas nimmt die Einrichtung an einem Modellprojekt teil, das eine Softwarefirma initiiert hat. So wird zum Beispiel der Bau eines Legoturms mit einer App in Wort und Bild aufgezeichnet. „Kinder ab vier Jahren nutzen das Programm, um ihre Erlebnisse festzuhalten“, sagt Daniela Anton. Sie öffnen es, machen Fotos von sich oder anderen Kindern, fügen Überschriften ein oder diktieren einer Erzieherin Sätze zu ihren Fähigkeiten. „Wir sehen deutlich, dass sich die Vier- bis Fünfjährigen dabei stark mit Sprache auseinandersetzen und mithilfe der Tastatur herausfinden, wie Wörter wie ‚Turm‘ geschrieben werden. Sie lernen auch, dass Geschichten einen Titel, einen Anfang und ein Ende haben.“ Die Leiter in hofft, dass die positiven Erfahrungen in ihrer Kita ein Vorbild für andere Einrichtungen sein können. Bislang überwiege bei vielen Fachkräften die Skepsis, weshalb zahlreiche Kitas ganz auf die Nutzung digitaler Medien zum Lernen verzichten würden. Anton sieht es als Auftrag für ErzieherInnen, den Mädchen und Jungen eine sinnvolle Nutzung dieser Medien beizubringen, weil diese später zu ihrem Alltag gehören werden.
Ein kontroverses Thema
Auch die Leiterin des Staatsinstituts für Frühpädagogik in Bayern, Eva Reichert- Garschhammer, spricht sich für einen frühen Erwerb von Medienkompetenz aus. Sie sieht die Auseinandersetzung mit digitalen Medien und deren Einfluss auf Alltag und pädagogische Arbeitsweise als wesentlich für den Bildungsauftrag an. Ein kreativer und verantwortungsvoller Umgang mit digitalen Medien sei unverzichtbar für eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe – und daher neben Lesen, Schreiben und Rechnen als eine vierte Kulturtechnik anzusehen, die es zu erlernen gelte.
Für die Macher der 2017 veröffentlichten BLIKK-Studie ist die früh zeitige Nutzung von digitalen Geräten hingegen keine Lösung, so Kinderarzt Dr. Uwe Büsching, der als Vorstandsmitglied des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte (BVJK) für die Studie mitverantwortlich zeichnet. In Bezug auf Lerneffekte digitaler Medien bleibt er skeptisch: „Es gibt keinen Beweis dafür, dass man mit digitalen Medien besser lernt, auch wenn das viele Medienpädagogen behaupten.“ Richtig finden die BLIKK-Verantwortlichen aber einen altersgerechten, von Eltern und ErzieherInnen stets sorgfältig reflektierten, dosierten Umgang mit Bildschirmmedien.
Für die BLIKK-Studie zu gesundheitlichen Risiken des übermäßigen Medienkonsums bei Heranwachsenden wurden über 5 500 Eltern zum Umgang ihrer Kinder mit digitalen Medien befragt. Das Ergebnis: 70 Prozent der Mädchen und Jungen im Kita-Alter nutzen die Smartphones ihrer Eltern mehr als eine halbe Stunde am Tag. Zugleich haben Ärzte die Kinder auf ihre körperliche, entwicklungsneurologische und psychosoziale Verfassung hin untersucht. Bei Kindern, die sich über 30 Minuten täglich mit Smartphones oder Tablets beschäftigen, sind Konzentrationsstörungen laut Angaben der Eltern drei Mal häufiger als bei Kindern, die solche Medien in geringerem Ausmaß nutzen. Die Studie belegt also einen Zusammenhang zwischen intensiver Mediennutzung und Entwicklungsstörungen. Probleme mit der Sprache treten laut ärztlicher Früherkennung doppelt so häufig auf. Hier handelt es sich um auffällige Mängel in Grammatik und Wortschatz sowie falsche Aussprache. Überdies fiel bei unter sechsjährigen Vielnutzern verstärkt motorische Hyperaktivität ins Gewicht. Der BVJK fordert Kinderärzte auf, in Früherkennungsuntersuchungen künftig eine Medienberatung durchzuführen.
Wer berät die Eltern?
Jörg Friedel vom Medienkompetenzzentrum Berlin-Pankow sieht eine solche Beratung jedoch besser in der Kita als in der Arztpraxis aufgehoben, da die pädagogischen Fachkräfte täglichen Umgang mit den Kindern pflegen, eine systemische Sichtweise auf die Familie des Kindes haben und damit die Eltern besser in ihrer Handlungssicherheit bestärken können. Der Medienpädagoge weiß um Chancen und Gefahren beim Lernen mit digitalen Medien im Kita-Alter: „Ob und in welcher Weise ein Lernverhalten positiv oder negativ beeinflusst wird, hängt immer vom Medium, Nutzungsumfang, von der Situation, den Inhalten und der Begleitung durch Erwachsene ab.“ Friedel sieht Lerneffekte mit digitalen Medien speziell dort, wo kindliche Nutzer selbst zum Akteur werden, ausprobieren, Fehler machen und durch ihr Handeln etwas dazulernen können – zum Beispiel mit Bilderbuch-Apps auf dem Tablet.
Hohe Wellen schlug vor einigen Jahren das Buch Digitale Demenz des Hirnforschers Manfred Spitzer. Er befürchtet langfristige Schäden für Körper und Geist im Zuge der Digitalisierung und behauptet, die Lernfähigkeit Heranwachsender werde durch Bildschirmmedien stark vermindert – mit Folgen wie Lese- und Aufmerksamkeitsstörungen, Übergewicht und Depressionen. Spitzer verlangt eine Konsumbeschränkung digitaler Medien, um solchen Entwicklungen Einhalt zu gebieten. Jörg Friedel wertet das Buch als „polemische Auseinandersetzung mit einem sensiblen Thema, welche Ängste schürt und Eltern zu Abstand mahnt, obwohl sie sich und ihre Kinder in einer digitalisierenden Welt damit konfrontieren sollten.“ Er wirft Spitzer vor, pauschale Behauptungen aneinanderzureihen und dabei nur die Medien und den Nutzer im Blick zu haben. Entscheidend im Hinblick auf mögliche Risikofaktoren sei aber immer auch der familiäre Kontext. Eltern haben die Mediennutzung ihrer Kinder eben zu einem großen Teil in der Hand.
*Namen geändert