Wir wissen, dass Entwicklung nicht bei allen Kindern gleich verläuft. Wie stark orientieren sich Eltern, ErzieherInnen, ÄrztInnen und TherapeutInnen dennoch an dem, was „normal“ ist?
Kinder entwickeln sich in der Tat ganz unterschiedlich. Die Bandbreite der normalen Entwicklung ist groß. Es ist deshalb schwierig, die Entwicklung eines Kindes auf nur wenige Kriterien zu reduzieren. Für die Beurteilung spielen auch Faktoren wie zum Beispiel das familiäre Umfeld und die individuelle Konstitution eine Rolle. Gerade in den ersten Lebensjahren gibt es viele Vorsorgeuntersuchungen, durch die wir Ärzte feststellen, was die Kinder schon können. Dabei spielen bestimmte Meilensteine eine wichtige Rolle. Bei den sogenannten Screenings achten Ärzte auf Fähigkeiten, die in diesem Alter etwa 90 Prozent der Kinder besitzen. Es ist wichtig, Entwicklungsauffälligkeiten frühzeitig zu erkennen, um eine passende Behandlung frühzeitig zu ermöglichen. Aber nicht immer, wenn ein Kind etwas noch nicht kann, bedeutet das, dass etwas nicht stimmt. Zum Beispiel finden die Vorsorgen in einem bestimmten Zeitfenster statt. Zu Beginn dieses Zeitraums kann es sein, dass bestimmte Dinge noch nicht klappen. Oft ist es sinnvoll, die natürliche Entwicklung abzuwarten und eine Kontrolle zu vereinbaren. Die Kinder reifen innerhalb des Zeitfensters mitunter noch nach und benötigen dann keine Unterstützung. Ich glaube, dass Eltern und ErzieherInnen sich dann besonders stark daran orientieren, was sie als „normal“ empfinden, wenn sie mit anderen Kindern vergleichen – aufgrund ihrer beruflichen Erfahrung oder bei Geschwisterkindern. Damit wird man dem einzelnen Kind natürlich nicht immer gerecht.
Wird dabei der Blick schnell auf die Defizite der Kinder gelenkt anstatt auf ihre Kompetenzen?
Das versuche ich natürlich zu vermeiden, wenn die Defizite nur durch Tests zum Vorschein kommen. Ich versuche immer, das Kind als Ganzes zu sehen und auch das familiäre Umfeld und die persönlichen Erfahrungen jedes Kindes in die Beurteilung hineinzunehmen. Vieles, wie zum Beispiel Musikalität oder soziale beziehungsweise emotionale Intelligenz, wird gar nicht oder wenig getestet, kann aber für das Leben eines Kindes von großer Bedeutung sein. Oder auch die Qualität der motorischen Fähigkeiten: Man schaut nur nach, ob fein- und grobmotorisch bestimmte Dinge funktionieren. Wie ausgereift die Motorik eines Kindes ist, ob es zum Beispiel extrem geschickt und sogar schon viel weiter ist als seine Altersgenossen, das wird nicht erfasst. Gerade die unter schiedlichen Fähigkeiten und Begabungen machen ja die Vielfalt unserer Kinder und auch unserer Gesellschaft aus. Da ist es wichtig, unterschiedliche Entwicklungen zuzulassen und nicht alle Kinder in dieselbe Schablone zu pressen.
Werden Kinder heute mehr und schneller therapiert als früher?
Das hängt von den Ergebnissen der Untersuchungen und dem Umfeld der Kinder ab. Für uns Ärzte gibt es bestimmte Grenzwerte, zum Beispiel in der sprachlichen Entwicklung, die darauf hinweisen, dass ein Kind Unterstützung benötigt. Viele Eltern sind aber auch verunsichert. So hat sich durch das achtjährige Gymnasium (G8) in den letzten Jahren der Leistungsdruck enorm erhöht, und er setzt sich bis in die Grundschulen und manchmal sogar in die Kitas fort. Deswegen fragen manche Eltern vermehrt nach Unterstützungsmöglichkeiten. Sie können ihren Kindern aber auch zu Hause selbst viel an Förderung bieten. Regelmäßiges Vorlesen von ein paar Minuten täglich ist zum Beispiel extrem wichtig für die Sprachentwicklung. Im normalen Familienalltag können Kinder überhaupt viel lernen. Schon kleine Kinder können beim Kochen helfen und beispielsweise Salat waschen. Damit wird zum Beispiel die feinmotorische Entwicklung unterstützt. Kinder haben selbst gute Antennen für ihre Fähigkeiten. Sie lernen viel durch Nachahmung und üben sich im passenden Umfeld in den verschiedensten Fertigkeiten. Da der Alltag bei jedem Kind anders aussieht, sind die Angebote natürlich unterschiedlich. Wenn ein Kind noch nie einen Stift in der Hand gehabt hat, dann wird es nicht so gut malen können wie Kinder, die das jeden Tag tun. Kinder spielen häufig das gern, worin sie gut sind. Ein Kind, das den Stift nicht gut halten kann, wird das Malen vermeiden und vielleicht lieber Fußball spielen. So entwickeln sich auch die Schwerpunkte anders. Es gibt aber auch Kinder, bei denen häusliche Förderung und Maßnahmen in den Einrichtungen nicht ausreichen, um eine normale Entwicklung zu gewährleisten. Wenn Kinder unter ihren Defiziten leiden oder daraus soziale Probleme entstehen, sind weiterführende Untersuchungen und Therapiemaßnahmen nötig, um für jedes Kind die bestmögliche Entwicklung zu erreichen.
Welche Rolle spielt dabei die Dokumentation von Entwicklung in der Kita?
Defizite schlagen sicherlich eher zu Buche, wenn sie schriftlich festgehalten werden. Manchmal fallen durch die Dokumentation auch Defizite auf, die normalerweise nicht bemerkt worden wären. Es ist sehr wertvoll, was die ErzieherInnen beobachten, weil sie die Kinder viel häufiger sehen als wir Ärzte. Sie sind im Grunde täglich mit den Kindern zusammen, kennen möglicherweise auch Geschwister und andere Familienmitglieder besser und bewältigen den Alltag viel unmittelbarer mit den Kindern. Zum Beispiel können sie das Verhalten der Kinder in Gruppensituationen besser beurteilen. Um möglichst viele Aspekte in die Beurteilung einfließen zu lassen, ist der Austausch zwischen den Berufsgruppen vor allem bei Problemen sehr wichtig. Es kommt oft vor, dass ich mit ErzieherInnen oder LehrerInnen telefoniere, um die Situation der Kinder besser beurteilen zu können. Es ist unsere Aufgabe, die einzelnen Sichtweisen zusammenzubringen, zu koordinieren und daraus die richtigen Maßnahmen für ein Kind abzuleiten.
In der Kita werden individuelle Lernfortschritte gewürdigt. Müssen die Kinder zum Schuleintritt dann aber doch alle zur selben Zeit dasselbe können, spätestens in der dritten Klasse?
Ganz klar: nein. Es gibt gewisse Dinge, die in der Gruppe funktionieren müssen, wie Konzentrationsfähigkeit oder das Einhalten einiger Regeln. Aber die Kinder sind natürlich beim Schuleintritt unterschiedlich entwickelt. Sie sind ja auch verschieden alt: Es gibt das bekannte Problem der „Septemberkinder“, die sehr jung eingeschult werden. Sie haben in den ersten Monaten eher Schwierigkeiten, sich einzugewöhnen und den Schulalltag zu bewältigen. Hier muss man individuell anpassen, zum Beispiel mit kürzeren Betreuungszeiten oder mehr Hausaufgabenarbeit der Eltern. Oder man muss den Kindern einfach ein bisschen mehr Zeit geben. Für die dritte Klasse sehe ich das genauso, die Kinder müssen nicht alle dasselbe können. Deswegen gibt es schließlich die Empfehlungen zum Besuch der weiterführenden Schule, die eben unterschiedlich ausfallen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Lehrer ein extrem gutes Auge haben, was das Schulverhalten und die Schullaufbahn der Kinder angeht. Sie wissen oft sehr genau, auf welcher Schule die Kinder am besten aufgehoben wären. Oft sind das dann Erwartungen der Eltern, die zu einer anderen Schulwahl führen; aber eigentlich können die Lehrer ganz gut erkennen, wo sich die Kinder optimal entfalten können und was ihnen guttut.
Wie sehen Eltern die Lernentwicklung ihrer Kinder?
Ich denke, dass die meisten Eltern die Lernentwicklung ihrer Kinder realistisch einschätzen können. Je nach eigener Bildung oder Erwartungen an die Kinder werden diese natürlich unterstützt und angeleitet, einen bestimmten Weg zu gehen. Viele Eltern stehen beispielsweise dieser G8-Regelung kritisch gegenüber und wissen, dass ihre Kinder sich auch ohne Einser-Schnitt in der Schule gut entwickeln können. Und ich glaube, dass viele Eltern mittlerweile eher das Wohl ihrer Kinder im Auge haben; sie legen mehr Wert darauf, dass diese ihr Leben ihren Fähigkeiten gemäß gestalten und gut zurechtkommen. Sie wissen, dass das Leben aus mehr besteht als Schulnoten. Trotzdem gibt es natürlich einige Eltern, die sich selbst unter Druck setzen und auch wollen, dass ihre Kinder Leistung bringen. Prinzipiell glaube ich, dass unser Schulsystem eine individuelle Entwicklung der Kinder ermöglicht und sie in diesem System ihren eigenen Weg finden können.
Welche Kinder sind in puncto Lernen benachteiligt? Und was können wir für sie tun?
Manche Kinder, die mehrsprachig aufwachsen oder deren Eltern kein Deutsch sprechen, sind im Kindergarten je nach Stand ihrer Sprachfähigkeiten zum Beispiel erst einmal benachteiligt. Die Politik hat dieses Problem schon länger erkannt. Es gibt daher schon viele Sprachfördersysteme in Kitas und Schulen, um den Kindern das Aufholen zu ermöglichen. Sicherlich spielt der Bildungshintergrund der Eltern eine Rolle und wie diese aufgewachsen sind und leben; auch kann es einen Unterschied machen, wie viel Zeit Eltern haben und in ihre Kinder investieren. Deswegen ist zum Beispiel die Hausaufgabenbetreuung an Schulen so wichtig. Manche Kinder haben durch die familiären Gewohnheiten Nachteile, etwa im Hinblick auf die Bewegungsroutine: Wenn die Familie wenig aktiv ist und viel Zeit vor dem Fernseher verbringt, sind die Kinder beim Schuleintritt motorisch meist nicht so erfahren wie andere in ihrem Alter. Das spielt alles zusammen und lässt sich nicht so leicht trennen. Armut se he ich grundsätzlich als ein Problem, weil sie stark mit den Lebensgewohnheiten zusammenhängen kann. Vonseiten der Politik wird durchaus versucht, mit verschiedenen Vergünstigungen für Familien und zum Beispiel mit Betreuungsangeboten gegenzusteuern. Nicht zuletzt ist das Konzept der Ganztagsschule aus solchen Überlegungen entstanden. Prinzipiell ist es aber auch ohne Geld möglich, Kinder gut zu fördern. Glücklicherweise sind Dinge wie Spielplätze und Bewegung in der Natur kostenlos und haben nebenbei einen positiven Effekt auf die Kindergesundheit.
Dr. Petra Böttler ist Kinderärztin und lebt mit ihrer Familie in Freiburg