Meine Kindheit ruht friedlich zwischen sechs Pappdeckeln, die mit leuchtend rotem Stoff bezogen sind. 18 Jahre
= 3 Fotoalben. Fein säuberlich reihen sich die wichtigsten Momente meines frühen Lebens aneinander. Altmodische
Fotoecken halten die Bilder an ihrem Platz, hauchdünne Zwischenblätter schützen sie vor Abrieb und Verkleben. Mit ihrer akkuraten Handschrift, die stets leicht nach rechts kippt, hat meine Mutter die wichtigsten Eckdaten meiner
Entwicklung festgehalten: „Erster Spaziergang im Schnee.“ „Zu Besuch bei den Großeltern.“ „Astrid kann jetzt
Dreirad fahren.“
Ich liebe es, durch die alten Fotos zu blättern. Meine Alben stecken voller Orte und Menschen, an die ich mich
nicht oder kaum noch erinnern kann. Kindergartenfreundschaften, Familienfeiern, Wanderurlaube, die längst verblasst sind. An anderer Stelle klaffen große Ereignislöcher. Weil man damals eher selten eine Kamera zur Hand hatte.
Das ist heute anders. Alle fotografieren ständig alles. Seit es Smartphones und Digitalkameras gibt, wird bei der Dokumentation des Familienlebens geklotzt, nicht gekleckert. Tausend Fotos pro Urlaub sind keine Seltenheit
mehr. Das Knipsen ist kostenneutral und kinderleicht, Speicherkapazitäten sind schier endlos vorhanden. Was liegt also näher, als das Beste, Schönste und Aufregendste, das man als Eltern zustande gebracht hat, pausenlos ins Bild
zu setzen? Wer sein Kind liebt, hält mit der Kamera drauf.
In der Kita hat die Gruppe meines Sohnes neulich ein … na ja, nennen wir es Theaterstück, vorgeführt. Der Text
war unverständlich, die Auf- und Abgänge der jungen Schauspieler holprig, Requisiten fielen um, Kostüme hingen schief, Musikeinsätze kamen zu spät. Kurz: Es war der Hammer! Langweilig und lustig zugleich, ein künstlerisches Unikat. Leider habe ich kaum was gesehen, denn in den drei Stuhlreihen vor mir wurden gefühlt 100 Handys emporgehalten. Dabei war der chaotische Charme der Veranstaltung nur im Augenblick zu genießen.
Hinschauen und hoffen, das sich etwas einprägt? Das ist keine Option mehr
Nehmt doch mal die Geräte runter! – möchte ich in solchen Situationen oft ausrufen. Reißt die Augen auf, versucht, den glücklichen Moment in eure Gehirne einzubrennen. Diese Zeit geht so schnell vorbei. Und sie kommt nie wieder.
Aber löchrige Langzeitgedächtnisse genügen den hohen Erinnerungsansprüchen schon lange nicht mehr. Hinschauen und hoffen, das sich etwas einprägt? Das ist keine Option mehr. Stattdessen versauen wir uns gegenseitig die Aufführungen, die Feiern, die ersten aufregenden Auftritte unserer Kinder. Dabei ist das, was das Handy einfängt, meist schlechter Ersatz. Trotz technischen Fortschritts immer irgendwie zu dunkel, zu leise, zu verschwommen, zu weit weg. Und Hand aufs Herz: Wie oft klicken wir uns später durch die tausend Filmchen und Fotos, die auf den Festplatten lagern? Eben.
Ich mache manchmal nur zehn Bilder pro Jahr und Kind. Die klebe ich, wie meine Mutter, in dicke Alben. Altmodischer geht’s wahrscheinlich nicht. Aber dafür weiß ich, dass die Fotos auch in Jahrzehnten noch angeschaut
werden. Nicht nur, weil ihre Anzahl überschaubar ist. Sondern auch, weil sie den nächsten Computerabsturz und das übernächste Software-Update auf jeden Fall überstehen werden.