Sobald Kinder auf der Welt sind, werden sie nach ihrem Geschlecht einsortiert – schon anhand der Farben ihrer Kleidung lassen sich Mädchen und Jungen meist leicht auseinanderhalten. Diese Unterscheidungen gehen aber von den Erwachsenen aus, denn im Verhalten von Kindern unter drei Jahren gibt es zunächst nur wenige Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen. Das ist auch in der Krippe zu beobachten: Individuelle Unterschiede sind groß, geschlechtstypisches Verhalten dagegen nur selten zu sehen. Wenn Jungen und Mädchen älter werden, fragen sie aber nach körperlichen Unterschieden und setzen sich mit den geschlechtstypischen Unterscheidungen auseinander, die sie in ihrer Umwelt erleben. Gegen Ende der Kindergartenzeit stellen sich viele Kinder aktiv als Mädchen oder als Jungen dar. Sie wollen nicht „gleich“ sein, sondern heben Geschlechterunterschiede hervor, übertreiben sie sogar und grenzen sich vom anderen Geschlecht ab.
Bildung und Geschlecht
Die Auseinandersetzung mit geschlechtsbezogenen Fragen ist nicht nur ein Thema in der familiären Erziehung, sondern auch eine fachliche Herausforderung in Bildungseinrichtungen. Seit Jahren werden Geschlechterunterschiede im Hinblick auf den Bildungserfolg diskutiert. Deutlich mehr Mädchen als Jungen machen heute Abitur. Insbesondere im sprachlichen Bereich zeigen Jungen im Durchschnitt schlechtere Leistungen und unter den schwachen Lesern sind besonders viele Jungen. Zwar sind viele Jungen im mathematischen und naturwissenschaftlichen Bereich etwas besser, aber hier haben die Mädchen aufgeholt. Die Gründe für diese Unterschiede sind umstritten. Eine aktuelle norwegische Studie ergab, dass Kinder, die Kindergärten mit höherem Männeranteil besucht haben, in der Grundschule bessere kognitive Leistungen zeigten – aber dies galt für Jungen wie für Mädchen gleichermaßen. Andere Studien stellten fest, dass Schulleistungen nicht davon abhängen, ob Kinder von weiblichen oder männlichen Lehrkräften unterrichtet werden. Wichtiger ist vermutlich, welche Einstellung Mädchen und Jungen zum Lernen entwickeln, wofür sie sich interessieren und wie vielfältig die Erfahrungen sind, die sie machen können. Mit geschlechterbewusster, -sensibler oder auch -gerechter Pädagogik ist zunächst ein geschärfter Blick für den Alltag gemeint. Wann verhalten sich Mädchen und Jungen unterschiedlich oder grenzen sich voneinander ab, wann spielen und lernen sie einträchtig mit- oder nebeneinander? Gelingt es, mit Bildungsangeboten Mädchen und Jungen gleichermaßen anzusprechen? Wann werden Jungen und Mädchen unterschiedlich behandelt, und wird das überhaupt bemerkt? Geschlechterbewusste Pädagogik ist eine konkrete Herausforderung im Alltag und in allen Bildungsbereichen. Die Ergebnisse zweier aktueller Untersuchungen können dies illustrieren.
In vielen Kindergärten gibt es die traditionellen „Bauecken“ und „Puppenecken“, wobei in der Puppenecke meist mehr Mädchen, im Baubereich mehr Jungen zu finden sind. Die Tendenz zur Trennung der Geschlechter im Spiel wird dadurch verstärkt. Zudem fördert Bauen mehr das räumliche Vorstellungsvermögen, wogegen beim Rollenspiel in der Puppenecke die sozial-emotionalen Kompetenzen gestärkt werden. In einer Studie in Regensburger Kitas wurden daher die beiden Spielbereiche zu einem geschlechtsneutral gestalteten Bereich zusammengelegt. In der Folge nahm das gemeinsame Spiel von Mädchen und Jungen zu und es waren weniger Geschlechterunterschiede im Spiel zu beobachten. Die sozial-emotionalen Kompetenzen von Jungen und das räumliche Denken von Mädchen verbesserten sich – und das in einem Zeitraum von weniger als einem Jahr!
Auf die Einstellung kommt es an
Eine weitere Studie untersuchte Zusammenhänge zwischen Sprachkompetenzen von Kindergartenkindern mit den Einstellungen des Fachpersonals zu Geschlechterrollen. Das Ergebnis: Jungen, die von Erzieher- Innen mit traditioneller Einstellung zu Geschlechterrollen betreut worden waren, zeigten in der ersten Grundschulklasse weniger Motivation, lesen zu lernen. Waren die Jungen dagegen von Fachkräften mit egalitären Einstellungen betreut worden, dann waren sie genauso motiviert wie die Mädchen – bei denen die Einstellung der ErzieherInnen keine Rolle spielte, da sie sowieso mehr am Lesen interessiert waren. Diese und viele andere Beispiele zeigen, dass pädagogische Fachkräfte mit ihrem Handeln Geschlechtergerechtigkeit nachweisbar fördern – und davon beide Geschlechter profitieren können. Geschlechterbewusste Pädagogik lässt sich dabei nicht als „Programm“ verwirklichen, sondern eher durch viele kleine Anstöße und Impulse im Alltag.
Den Kita-Alltag gestalten
Kitas, die sich auf diesen Weg begeben, bemühen sich vor allem darum, Mädchen und Jungen in allen Bildungsbereichen vielfältig zu fördern und geschlechtstypischen Einschränkungen entgegenzuwirken. Vielleicht gibt es einmal Mädchentag und einmal Jungentag im Bewegungsraum, damit nicht immer dieselben Kinder beim Herumtoben dominieren. Vielleicht gibt es einen Schminktisch, an dem sich beide Geschlechter „schön machen können“ – und Eltern sollten nicht befürchten, dass mit ihrem kleinen Jungen etwas nicht stimmt, nur weil er wie Mama rot lackierte Fingernägel liebt. Tierfiguren oder Naturmaterialien in der Bauecke machen diesen Bereich auch für Kinder interessanter, die keine Karriere auf dem Bau oder bei der Eisenbahn planen. Ein Tontisch oder körper- und bewegungsorientiertes Malen auf großen Flächen lässt Kinder zu Künstlern werden, die sonst um den Maltisch einen großen Bogen machen.
Initiative zeigen
Manchmal müssen pädagogische Fachkräfte eingreifen, wenn Jungen oder Mädchen einen Spielbereich „besetzen“ und das andere Geschlecht ausgrenzen. Gemeinsames Spiel lässt sich nicht anordnen, aber manchmal unterstützen, indem man gegen klischeehafte Zuordnungen Stellung bezieht. Andererseits ist insbesondere gegen Ende der Kindergartenzeit wichtig, dass Jungen oder Mädchen auch unter sich sein können, wenn sie das möchten. Kitas können daher gelegentlich Angebote nur für Jungen und nur für Mädchen machen.
Bei geschlechtersensibler Pädagogik geht es letztendlich um den Austausch über geschlechtsbezogene Themen, Verhaltensweisen und stereotype Zuschreibungen im Team, mit Kindern und mit Eltern. Dabei geht es nicht um fertige Antworten oder „richtiges“ Verhalten, sondern um die gemeinsame Suche danach, wie Mädchen und Jungen glücklich heranwachsen und Frauen und Männer ein gutes Miteinander in Familie und Gesellschaft gemeinsam gestalten können.