Papa, der Paul haut immer.“ Was tun, wenn das Kind mit solchen Sätzen aus der Kita nach Hause kommt?
Sie ignorieren und auf das pädagogische Fachpersonal vertrauen? Oder am nächsten Morgen als Rächer von Sohn oder Tochter in den Gruppenraum stürmen?
„Ich würde erst einmal auf mein eigenes Kind eingehen, seine Gefühle ernst nehmen und spüren, wie es ihm geht“,
sagt Michael Wünsche. Er leitet den Studiengang Kindheitspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Je
nach Alter des Kindes und der jeweiligen Situation sei es ganz unterschiedlich, was Kinder über ihre Erlebnisse in der Kita erzählen wollen und können – und wie es ihnen dabei geht: ob sie verunsichert sind, Angst haben, wütend sind, oder ob sie das in ihren Augen auffällige Verhalten des anderen Kindes einfach interessant finden.
Dann heißt es, nicht dramatisieren, aber auch nicht abwimmeln. Vor allem in emotional aufgeladenen Situationen
könnten Eltern ihrem Kind helfen, indem sie ihm erst mal Raum für seine Gefühle geben, sagt Wünsche. „Danach kann ich dann auf die Inhaltsebene gehen und gemeinsam mit meinem Kind klären: Was machen wir denn jetzt?“
Fachkräfte als Vermittler
Selbst entspanntere Eltern sind in solchen Fällen verunsichert und versuchen auszuloten, wie sie angemessen
reagieren können. Michael Pfreundner hat einen klaren Rat für besorgte Väter und Mütter: „Sie sollten die ErzieherInnen in der Kita ansprechen, nicht die Eltern des anderen Kindes“, sagt der Dozent an der Fachakademie für Sozialpädagogik im oberbayerischen Rottenbuch, der früher selbst einen integrativen Kindergarten geleitet hat. In der Regel wüssten die pädagogischen Fachkräfte in den Kitas von schwierigen Situationen: „Dann können sich die Eltern den Konflikt gemeinsam mit ihnen anschauen und überlegen, wie sie ihr eigenes Kind stärken können, damit es
sich besser zu schützen weiß.“
Auch die ErzieherInnen könnten mit den Kindern üben, sich gegenüber den anderen Jungen und Mädchen abzugrenzen,
die sie als störend empfinden. Sprachlich, aber auch mit Gesten, zum Beispiel mit einer ausgestreckten Hand als fest verabredetes Stopp-Zeichen in der Kitagruppe. Brechen Konflikte immer wieder in bestimmten Alltagsoder
Spielsituationen auf, sei es oft sinnvoll, diese anders zu gestalten.
Anzeichen für Überforderung
Insbesondere wenn die Eltern sich Sorgen über das Verhalten des eigenen Kindes machen, sei der Kontakt zu den
Fachkräften in der Kita wichtig. Auffälliges Verhalten von Kindern wie etwa Aggression, aber auch weniger störende
Reaktionen wie Rückzug und Hemmungen, sind für Pfreundner „ein Hinweis des Kindes darauf, dass in seinem System
etwas nicht stimmt.“ Das Kind als schwächstes Glied bringe ein bestehendes Ungleichgewicht zum Ausdruck, zum Beispiel in der Kitagruppe oder in der Familie. Auch Michael Wünsche betont: „Kein Kind ist per se bösartig oder will andere schädigen.“ Sein anstrengendes, für andere vielleicht ganz unverständliches Handeln ergebe für das Kind selbst Sinn – beispielsweise, weil es in einer bestimmten Situationen keine anderen Möglichkeiten sieht. So
reagiert es etwa auf eine Überforderung mit Aggressionen. Dies führt dazu, dass andere Kinder nicht mit ihm spielen wollen, was wiederum seine Wut fördert.
Deshalb sollten Konflikte auch in der Kitagruppe bewältigt werden, darin sind sich die beiden Pädagogen einig.
Und zwar von den Kindern selbst – mit Unterstützung ihrer ErzieherInnen. Natürlich gebe es Situationen, in denen
Erwachsene sofort eingreifen müssten, sagt Pfreundner, bei Versuchen von Körperverletzungen oder sexualisierten
Übergriffen etwa. „Aber grundsätzlich besteht unsere Aufgabe nicht darin, den Kindern die Konflikte abzunehmen.“
Für Eltern sei es wichtig, sich auch die eigenen Gefühle klarzumachen, wenn das Kind von schwierigen Situationen im Kindergarten erzählt. „Vielleicht ist mein erster Impuls, in den Laden stürmen zu wollen und die
zusammenzufalten“, sagt Wünsche. „Ich habe natürlich mein Kind im Blick – von der Gesamtsituation weiß ich aber
wenig.“ Er rät Eltern, sich möglichst offen anzuhören, was Sohn oder Tochter erzählen, und zurückhaltend mit den
eigenen Erwartungen zu sein. Dann gilt es, mit dem Kind gemeinsam zu überlegen, wie sich eine Situation lösen lässt und wo es dabei die Unterstützung der Eltern braucht.
Konflikte sind nichts, was es zu vermeiden gilt. Kinder brauchen Konflikte
Fühlt sich ein Kind zum Beispiel gestört durch den massiven Lärm eines anderen Kindes, dann könnten seine Eltern es ermutigen, auch den ErzieherInnen davon zu erzählen, sagt Pfreundner. Traut sich das Kind nicht, könnten die Eltern anbieten, als Unterstützung mitzukommen. „Manchmal reicht es ja schon, einfach dabei zu sein.“ Kind und Fachkraft können dann gemeinsam überlegen, in welchen Situationen das Kind in der Gruppe mehr Ruhe braucht, und wie es sie bekommt. So macht das Kind die Erfahrung, auch bei Konfl ikten selbst etwas zu bewirken.
„Konflikte sind nichts, was es zu vermeiden gilt“, betont Michael Wünsche, „Kinder brauchen Konflikte.“ Die Erfahrung, dass andere Kinder sich anders verhalten als man selbst, und vielleicht auch als die eigenen Eltern und Geschwister, sei wichtig für die eigene Entwicklung. Und es stärke alle Kinder, wenn sie es selbst schaffen, Schwierigkeiten in der Gruppe zu bewältigen, begleitet von ihren erwachsenen Bezugspersonen. „Gefühle bieten grundsätzlich viele Lernmöglichkeiten“, sagt Michael Wünsche, „und zwar alle Gefühle – auch wenn es bei positiven
Gefühlen leichter fällt.“
Soll man beißende Kinder aus der Gruppe nehmen?
Das sagt die Erzieherin
Beißende Kinder stellen im Krippenalltag eine große Herausforderung für Fachkräfte dar. Als Erzieherin muss man
alle Kinder schützen, somit auch die beißenden. Wenn es tatsächlich zu Verletzungen kommt, ist auch die Akzeptanzschwelle der Eltern schnell überschritten. Dann gilt es, die Gefühle und Bedürfnisse der Eltern sowohl des beißenden als auch des gebissenen Kindes ernst zu nehmen. Auf die Frage nach einem Ausschluss aus
der Gruppe kann ich nur mit einem vehementen Nein antworten. Das beißende Kind befindet sich in dem jeweiligen Moment auch in einer Notsituation und benötigt unsere achtsame Unterstützung. Hier ist es notwendig, gut zu beobachten, die Gründe herauszufinden und entsprechend deeskalierend zu handeln. Dies bedeutet allerdings nicht, dass beißendes Verhalten vermieden werden kann. Kommt es dazu, ist ein klares „Stopp“ angebracht – aber auch Verständnis für das handelnde Kind. Das Erzieherteam sollte sich regelmäßig über die Haltung zum Thema, vorbeugende Maßnahmen und angemessene Reaktionen austauschen. Wenn darüber in einem Team Klarheit herrscht, fällt das Handeln im akuten Fall leichter.
Das sagt die Mutter
Wenn mein eigenes Kind gebissen wird, bin ich erst einmal entrüstet. Weil das Personal offensichtlich nicht rechtzeitig eingreift, bevor ein Kind sich nicht anders zu helfen weiß, seine Grenzen aufzuzeigen. Ohne Sprache die eigenen Bedürfnisse zum Ausdruck zu bringen ist schwierig. Dann denke ich an die Eltern des betreffenden Kindes. Sie tun mir leid. Ich möchte ungern hören, dass mein Kind sich gewaltsam durchsetzt. Ich habe drei Kinder
und beobachte, dass jedes seine eigene Methode hat. Alle erleben die gleiche Erziehung, trotzdem löst das eine oder andere Konflikte mit mehr oder weniger körperlichem Nachdruck. Ich hoffe, dass die Eltern ihrem Kind klarmachen, dass es nicht in Ordnung ist, sich durch Beißen zu behaupten. Gleichzeitig weiß ich, dass das viel Geduld braucht. Am Ende lernen alle Kinder, sich zu artikulieren und auf den Körpereinsatz zu verzichten. Hier tritt wieder die Rolle der Kita in den Vordergrund: das Fördern der sprachlichen Entwicklung, ein enges und vertrauensvolles Verhältnis mit qualifizierten Fachkräften, klare Regeln und ein deutliches Nein zu körperlichen Attacken. Das hilft in meinen Augen viel mehr, als Kinder aus der Gruppe auszuschließen.