Mein Freund Ben ist 88 Jahre alt. Je älter er wird, desto stärker schiebt sich die Vergangen heit in seine Gegenwart hinein. Viele seiner Geschichten handeln von seinem Opa. Der muss ein weiser Mann gewesen sein. Seinen Enkel hat er oft mit in den Wald genommen, hat ihm Bäume und Wurzeln gezeigt, Käfer, Vögel und Pilze. Ben sollte hingucken, anfassen, verstehen. Einmal hat der Opa eine Handvoll Waldboden aufgehoben und gesagt: „Da steckt die ganze Welt drin.“ Den Satz hat Ben auch nach über acht Jahrzehnten nicht vergessen.
Manchmal frage ich mich, welcher Satz meiner Tochter aus ihrer Kindheit im Gedächtnis bleiben wird. Ich
fürchte, es ist eine Mischung aus „Igitt, nicht anfassen!“ und „Achtung, stehen bleiben!“. Wir leben in der Großstadt, jeder Weg gleicht einem Hindernislauf. Das fängt beim Verkehr an. Rote Ampeln sind keine Garantie dafür, dass Fahrradfahrer anhalten. Autos parken in zweiter Reihe. Sperrmüll türmt sich auf unbebauten Brachen. Mülleimer quellen über, Hundekot säumt die Bordsteine.
Am liebsten würde ich das Kind nachmittags, wenn wir aus dem Kindergarten kommen, im sicheren Buggy festschnallen. Dann im Laufschritt durch die Straßen, von der einen gepflegten Oase (Kindergarten) in die andere (Zuhause). Nichts berühren, nur das Nötigste wahrnehmen.
Aber meine Tochter hat andere Pläne. Seit sie laufen kann, trägt sie einen hellblauen Plastiklöffel bei sich,
immer fest von ihrer linken Faust umschlossen. Entdeckermodus, heißt das wohl. Stets bereit zu wühlen und zu buddeln. Die Stadt ist dabei ihr Waldboden. Was es da alles gibt – Wahnsinn! Kaugummis, Kronkorken, alte Taschentücher. Mit Mühe kann ich sie davon abhalten, Zigarettenkippen aufzulesen.
Das Netz unter dem Kinderwagen gleicht einem Museumsarchiv
Das Netz unter unserem Kinderwagen gleicht einem Museumsarchiv, Abteilung Ethnologie und Naturkunde. Alles muss eingesammelt werden, findet meine Tochter, keiner dieser tollen Schätze darf am Straßenrand liegen bleiben. Mit
Kastanien, Blättern und Stöckchen kann ich leben, bei Scherben und halben Kugelschreibern hört meine Toleranz
auf. Nein, das lassen wir liegen! Mit Mühe unterdrücke ich den Ekel in der Stimme. Willst du nicht doch lieber sitzen und geschoben werden, locke ich. Nein, das will sie auf keinen Fall.
Und so brauchen wir gefühlt Stunden, um ein paar Hundert Meter voranzukommen. Anfangs stresst mich das maßlos, aber mit jedem Bücken bröckelt meine innere Gegenwehr. Die Begeisterung meiner Tochter ist einfach zu ansteckend. Alles findet sie gleichermaßen aufregend und interessant. Dort zum Beispiel haben Bauarbeiter einen riesigen Berg Sand hingekippt. Der schreit förmlich danach, bestiegen zu werden. Und hier – Mama, schau! – klebt ein bunter Aufkleber am Laternenmast. Den kriegt man doch ab, oder?
Und dann entdecken wir tatsächlich eine kleine Ameisenstraße im schmalen Grünstreifen, an dem unser Weg vorbeiführt. (Ich versuche zu verdrängen, wie viele Hunde hier möglicherweise schon hingepinkelt haben.) Wo die Ameisen wohl herkommen? Und wo sie hin eilen? Und wie machen sie das bloß, dass sie so mühelos die Halme und Hürden überwinden?
Wenn ich das nächste Mal bei Ben bin, frage ich ihn. Ich bin sicher, er kann es uns erklären.