Er wiegt mindestens dreimal so viel. Trotzdem weicht das sechsjährige Mädchen nicht von der Seite des Bernhardiners, der neben seiner Besitzerin auf dem Deck der Inselfähre hockt. Nachdem die Eltern die Erlaubnis
eingeholt haben, streichelt die Kleine den geduldigen Vierbeiner eine gute Stunde lang, im nasskalten Wetter. Beim Abschied am Ende der Überfahrt fließen Tränen.
Eine solche Situation hat sicher jeder schon einmal erlebt. Sei es mit den eigenen Kindern, die sich nicht von einem ihnen völlig fremden Tier loseisen konnten, oder weil wir selbst einmal wie das kleine Mädchen auf der Fähre
waren. Kinder und Tiere – da scheint es eine spezielle Verbindung zu geben. „Beim ‚Bettgehritual‘ mit Wickeln und
Flasche ist unser Hund immer dabei. Er legt sich dann vor das Bett unseres Sohnes. Morgens kuscheln die beiden
sich zusammen wach“, erzählt Angelika Lehner, Mutter des zweieinhalbjährigen Simon. Ganz klar bestehe eine besondere Bindung zwischen Tier und Kind. „Alles andere wäre unnatürlich.“ Es komme aber darauf an, ob Eltern die
nötige Nähe zuließen. „Viele haben Sorge und verbannen den Hund.“
Kühe hinter Hochhäusern
„Kinder sind biophil, sie interessieren sich sehr für andere Lebewesen“, sagt Cora Geigenbauer. Die Erzieherin mit einer Weiterbildung in Tiergestützter Pädagogik leitet gemeinsam mit ihrer Schwester den Freiburger Verein
Bauernhoftiere für Stadtkinder e. V.. „Kinder haben dieses Gefühl von einer Einheit mit der Natur, sie spüren eine
ganz große Verbundenheit. Grundsätzlich haben wir alle das, aber bei Erwachsenen verliert es sich meist wieder.“
Der Verein bietet Kita-Gruppen und Schulklassen die Möglichkeit, Tiere ganz nah und selbstverständlich zu erleben. Mitten in der Großstadt, zwischen Hochhäusern und Kleingärten. Es geht um den direkten Kontakt zu Nutztieren und ein Bewusstsein dafür, welchen Bezug wir zu ihnen haben. „Auf der Eierpackung ist zwar mal ein Huhn drauf, aber auf einem Schokoriegel ist ja auch ein Pinguin zu sehen. Für Kinder besteht da kein Zusammenhang. Dagegen ist es für sie fast schon etwas Magisches, wenn sie die Eier unserer Hühner holen dürfen. Die wollen sie
dann gar nicht mehr hergeben“, sagt Erzieherin Geigenbauer. Wer in der Kindheit lerne, etwas zu lieben und zu
respektieren, erinnere sich auch als Erwachsener daran – und entferne sich nicht noch weiter von der Natur und den Ursprüngen unserer Lebensweise, so der Grundgedanke des Vereins.
Tiere tun gut
Dass der Kontakt zu Tieren guttut, wurde in Studien belegt. So wirkt die Anwesenheit eines Tieres auf Menschen
stressreduzierend; die Herzfrequenz verringert sich, der Blutdruck ist niedriger. Beim Streicheln wird außerdem
das entspannende „Kuschelhormon“ Oxytocin ausgeschüttet. Aus diesen Gründen werden Tiere auch therapeutisch
eingesetzt, etwa in der Psycho-, Ergo- oder Physiotherapie, in der Logopädie und auch in der Sonderpädagogik.
Besitzer eines Haustieres verfügen durchschnittlich über eine bessere Gesundheit als Menschen, die kein Tier halten. Wachsen Kinder in einem Haushalt mit Tier auf, entwickeln sie zudem ein größeres Selbstvertrauen und
schulen Einfühlungsvermögen sowie Rücksichtnahme. „Die Kinder lernen schnell, dass man Tiere nicht zwingen kann. Wenn sie zum Beispiel einem Schaf hinterherrennen, läuft dieses meist noch weiter weg. So verstehen die Kinder irgendwann, wann ein Tier den Kontakt möchte und wann nicht“, erklärt Cora Geigenbauer. Kinder entwickeln ein gutes Gespür dafür, die Körpersprache eines Tieres zu deuten, eine wichtige Fähigkeit auch für den Umgang mit Menschen. „Wir bilden uns sehr viel auf unsere Sprache ein. Aber im Endeffekt kommunizieren wir auch oft ohne Worte.“
Das emotionale Band zum Tier
Die „nonverbale Kommunikation“ eines Tieres ist es auch, die es zum engen Vertrauten eines Kindes macht. Es
plaudert keine Geheimnisse aus, verurteilt nicht und handelt völlig wertfrei. In einer Studie mit Zwölfjährigen fanden Wissenschaftler der Universität Cambridge heraus, dass Kinder die Beziehung zu ihrem Haustier mitunter als befriedigender empfinden als die zu ihren Geschwistern. „Für Kinder ist ein Tier einfach ein Freund, der immer zuhört, gerade wenn man traurig ist oder sich ärgert. Manchmal sind ja auch die eigenen Eltern doof, alle sind doof“, sagt Erzieherin Geigenbauer. Ihre Schwester Kerstin ergänzt: „Der Kontakt zu Haustieren ermöglicht auch einen anderen Zugang zu Wildtieren und ein anderes Verständnis und Einfühlungsvermögen.“ Sie ist Ornithologin geworden, weil sie mit Wellensittichen aufwuchs. Damit wurde der Grundstein für ihr Interesse und ihren Bezug zur Natur gelegt.
Müssen Eltern ihren Kindern also den Wunsch nach einem eigenen Haustier um jeden Preis erfüllen? „Nicht unbedingt“, sagt Cora Geigenbauer, „ein eigenes Tier ist natürlich eine besondere und tiefgehende Erfahrung. Dazu
muss aber der Erwachsene die Vermittlung zwischen Tier und Kind verantwortungsbewusst übernehmen.“ Die artgerechte Haltung des Tieres sollte selbstverständlich sein. „Es ist deshalb auch verantwortungsbewusst zu sagen, das wäre zwar toll, ist aber für uns nicht zu leisten. Nicht jeder kann diese Voraussetzungen erfüllen, und das ist völlig
in Ordnung.“
Wenn es kein eigenes Tier sein kann
Kosten und Zeitmangel sind wohl die häufigsten Gründe, die gegen ein Haustier sprechen. Ihr Kind kann trotzdem vielseitige Erfahrungen mit Tieren sammeln:
- durch Angebote von Abenteuer- oder Schulbauernhöfen
- mit Haustieren von Freunden oder Nachbarn
- mit Hunden aus dem Tierheim, mit denen Sie regelmäßig Gassi gehen
Achten Sie dabei darauf, dass die Tiere artgerecht gehalten und nicht zum Kontakt
gezwungen werden.