Jedes Jahr stehen Eltern sogenannter Kann-Kinder vor der Entscheidung, ob sie ihr Kind schon mit fünf Jahren in die Schule schicken sollen oder nicht. Betroffen sind die Jungen und Mädchen eines Jahrgangs, die zum Zeitpunkt der Einschulung noch nicht das sechste Lebensjahr vollendet haben, deren Geburtstag jedoch in der zweiten Jahreshälfte liegt. Wann Kinder schulpflichtig sind und für welche Kinder die Kann-Regelung gilt, ist in den Bundesländern
unterschiedlich. Vor einigen Jahren führte der politische Wille, Kinder früher und schneller zu Bildungsabschlüssen
zu führen, in einigen Ländern zu Änderungen der Einschulungsregelung. In Berlin wurden 2014 auch alle fünfjährigen Kinder schulpflichtig, die bis zum 31. Dezember sechs Jahre alt wurden. Diese umstrittene Früheinschulung wurde im Schuljahr 2017 / 18 wieder zurückgenommen.
Ob ein fünfjähriges Kind eingeschult wird, hängt von verschiedenen Kriterien ab, zudem kommt es bei der Einschätzung auf die jeweilige Perspektive an. Im Idealfall sind sich Eltern, Fachkräfte, der Kinderarzt und die Schule einig. Ein fünfjähriges Kind wird eingeschult, wenn es kognitiv und sprachlich gut entwickelt ist, erste Zahlen und Buchstaben kennt und sich gut ausdrücken kann. Es zeigt sich beim Spiel mit anderen kooperativ, kann sich aber auch durchsetzen, wenn es notwendig wird. Es ist emotional stabil, hat Interesse daran, Neues zu lernen
und kann Arbeitsaufträge verstehen und befolgen. Motorisch ist es dazu in
der Lage, einen Stift zu halten und eine Schere zu benutzen, es kann rennen und klettern und außerdem seine Sachen zusammenhalten.
Soziale und emotionale Kompetenzen
Die Sicht der Eltern auf ihr Kind ist stark davon geprägt, dass sie es vor allem im häuslichen Umfeld erleben. Sie tendieren zur frühen Einschulung, wenn sie es als sehr interessiert wahrnehmen und Entwicklungsschritte beobachten, die anderen Kindern im gleichen Alter noch fehlen. Viele Eltern haben Angst, ihr Kind könne sich in einem weiteren Kindergartenjahr langweilen. Wenn alle Freunde eingeschult werden, befürchten sie, dass ihr Kind sich im Kindergarten einsam fühlen könnte.
Wie ein Kind sich in der Gruppe verhält, erleben vor allem die Fachkräfte im Kindergarten. „Eltern erleben ihr
Kind in einer 1 : 1-Situation – da sind die meisten Kinder lernbereit“, sagt Anja Mantel, die seit über 20 Jahren als Erzieherin arbeitet. Aus ihrer Perspektive kann sie gut beurteilen, ob ein Kind sich in die Gruppe einordnen und selbstmotiviert arbeiten kann. Grundsätzlich sind alle Bereiche der kindlichen Entwicklung selten gleich ausgeprägt. Deshalb können gerade recht „schlaue“ Kinder mehr Probleme im Sozialverhalten oder der emotionalen Reife zeigen. Diese Kompetenzen schulen sich in einem weiteren Jahr Kindergarten besser als im „Ernstfall“ erste Klasse.
Die Kinderärztin Maria Karathana untersucht den körperlichen und geistigen Entwicklungsstand der Kinder während
der Schuleingangsuntersuchungen für das Gesundheitsamt Frankfurt am Main. Sie interessiert es zunächst, ob eine frühe Einschulung die Empfehlung der Kita, der Wunsch der Eltern oder der des Kindes ist. Ein erkennbarer Drang nach Lernen und Wissen ist für sie ein wichtiger Indikator. Doch entscheidender findet sie die sozioemotionale Reife der jüngeren Kinder. Auch für sie ist Intelligenz nicht automatisch das wichtigste Kriterium.
Ein Jahr macht viel aus
Am Ende entscheidet die Schule, ob sie der früheren Einschulung zustimmt oder nicht. Im Schuljahr 2016 / 2017
wurden bundesweit 3 Prozent der Kinder vorzeitig eingeschult. Wie ergeht es ihnen? „Viele Eltern unterschätzen die
Anforderungen der ersten Klasse“, sagt Christine Hennig, die an der Astrid-Lindgren-Grundschule in Hochheim
unterrichtet. „Ein Jahr älter oder jünger macht viel aus.“ Je älter die Kinder sind, umso souveräner gelingt der Schulstart, so ihre Erfahrung. Denn ältere Kinder sind körperlich fi tter und können sich länger konzentrieren. Und in der Schule werden „junge“ Erstklässler nicht mehr mit Gleichaltrigen verglichen, sondern mit ihren Mitschülern, die bis zu einem Jahr älter sein können. Schnell zählt nicht mehr der Wissensstand vor der Einschulung, sondern die Lernkurve. Für Eltern, die ihr Kind früh eingeschult haben, weil sie es für besonders intelligent halten, ist es bitter, wenn ihr Kind leistungsmäßig hinter die Klassen kameraden zurückfällt. Und das sei leider nicht selten der Fall, sagt die Grundschullehrerin.
Weitere Schullaufbahn
Aufgefangen werden muss das dann zu Hause. Wer sein Kind auf dem Gymnasium sehen möchte, schiebt es die Grundschulzeit über an. Einer Studie zufolge wechseln trotzdem deutlich weniger früh eingeschulte Kinder aufs Gymnasium. Und der Altersunterschied zieht sich durch die gesamte Schullaufbahn. In den meisten Bundesländern wechseln Früheingeschulte dann bereits mit neun Jahren auf die weiterführende Schule, was nicht selten mit langen
Fahrwegen verbunden ist und auch mit raueren Sitten. Die Pubertät setzt heute früher ein als noch vor einigen Jahren – und der Druck, sich wie ein Teenager zu verhalten, noch früher. Es macht ein Kind einsam, wenn es als einziges in der Klasse gerne noch Lego bauen oder Pferd spielen möchte.
So viele Aspekte beeinflussen die Frage, ob ein Kind früher eingeschult werden sollte oder nicht. Welche Entscheidung die richtige ist, hängt vom einzelnen Kind ab. Kinder, die „fliegen“ wollen und können, sollte man
nicht zurückhalten. Aber wenn Zweifel bestehen, ist ein weiteres Jahr im Kindergarten die sicherere Alternative. Ein Jahr in einer neu gemischten Gruppe, in dem viele neue, kreative Spielideen entstehen. Ein Jahr, in dem ein Musikinstrument erlernt werden kann. Und ein Jahr, in dem ein Kind den Status der „Großen“ genießen und Selbstbewusstsein für einen reibungslosen Schulstart tanken kann.
Frühere Bildung für alle?
Dass Kinder so lange wie möglich spielen sollten, ist eine eher deutsche Einstellung. Viele amerikanische, asiatische oder auch französische Eltern befürworten ein Bildungskonzept, das sich früh an der Schule und ihren Inhalten orientiert. In den USA ist es üblich und teilweise P fl icht, dass Kinder mit fünf Jahren eine Vorschulklasse besuchen – für uns verwirrender weise „Kindergarten“ genannt. In dieser Vorschulklasse wird viel Stoff behandelt, der Gegenstand der ersten Klasse ist, nur dass er noch spielerisch vermittelt wird.
In Frankreich ist die „École maternelle“ eine Mischung aus Kindergarten und Vorschule. Die Vermittlung schulischer Bildung hat dort einen deutlich höheren Stellenwert als bei uns. Wenn die Sechsjährigen in die Grundschule wechseln, sind sie im Umgang mit Zahlen und Sprache weiter als deutsche Kinder.
Aber auch in Hessen gibt es Grundschulen, an denen der Besuch einer „Eingangsstufe“ ab fünf Jahren verpflichtend ist. Dort haben die Kinder dann üblicherweise zwei Jahre Zeit, den Stoff der ersten Klasse zu bewältigen. Schüler mit rascher Auffassungsgabe können bereits nach einem Jahr in die 2. Grundschulklasse wechseln, Kinder mit Förderbedarf erhalten drei Jahre Zeit.
Deutschlang schult später ein als andere Länder. Zu spät?
Das sagt die Erzieherin
Durch meine berufl iche Erfahrung bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass es für Kinder gut ist, erst ab dem
sechsten Lebensjahr eingeschult zu werden. Wann ein Kind eingeschult werden soll, ist aber auch immer eine ganz
individuelle Entscheidung und nicht grundsätzlich vom Alter abhängig. Fit für die Schule zu sein bedeutet nicht nur kognitiv fi t zu sein, sondern auch motorisch, emotional und sozial. Oft sehen Eltern nur, dass ihr Kind schon Buchstaben und Zahlen kennt. Sie übersehen, dass die Anforderungen an Schulkinder in den letzten Jahren gestiegen sind. Bildung beginnt außerdem nicht erst in der Schule, sondern bereits in Elternhaus und Kindergarten. Daher ist es wichtig, Kinder in alltägliche Tätigkeiten einzubeziehen, bei denen sie lernen, eigenverantwortlich zu handeln sowie Ausdauer und Konzentration zu üben. A ußerdem benötigen Kinder ausreichend Zeit zum Spielen, denn gerade im freien Spiel machen sie eine Vielzahl von Erfahrungen, die die Grundlage für das Lernen bilden! Lassen wir den Kindern also Zeit, bis sie in die Schule kommen, und ermöglichen wir ihnen dadurch einen guten Schulstart.
Das sagt der Vater
Die Jugend von heute lernt auf der Überholspur. Früh gefördert geht es im Eiltempo zum Abitur. Kaum volljährig beginnt das Bachelor-Studium, weitere sechs Semester klare Struktur. Berufseinstieg mit Anfang 20. Gute Noten? Ja. Lebenserfahrung? Nein. Bei diesem Tempo bleibt vieles auf der Strecke: der Blick über den Tellerrand durch eine Weltreise oder ein Freiwilliges Soziales Jahr, die Zeit für lehrreiche Umwege abseits der Semesterpläne. Umso wichtiger ist es, dass wir unserem Nachwuchs wenigstens in der Kindheit Zeit lassen. Für kindliche Neugier, die Lust, neue Dinge zu entdecken, den unbefangenen Umgang mit der Welt. Der schulische Ernst des Lebens, benotet und in einen 45-Minuten-Takt gepresst, kommt schon früh genug. Verstehen Sie mich nicht falsch: Natürlich sollte auch in der Kita gefördert werden, etwa die sprachlichen Kompetenzen oder das Interesse an Naturwissenschaften und Technik. Doch genau dafür braucht es keine frühere Einschulung, sondern vor allem eine adäquate Ausstattung und Ausbildung der Pädagogen und eine bessere Kooperation zwischen Grundschulen und Kindergärten.