Der dreijährige Matteo ist bei seinem Freund Leo zu Besuch. Selbstvergessen spielen die beiden Jungen mit Lego, obwohl Matteos Mutter bereits im Flur steht und darauf wartet, dass ihr Sohn sich verabschiedet. „Matteo!“, ruft sie, „Wir müssen jetzt wirklich los, ich stehe im Halteverbot.“ Der Kleine ignoriert sie. Die Mutter wird ungeduldig und genervt. „So, mein Freundchen, jetzt reicht es mir! Wenn du jetzt nicht kommst, dann fahre ich ohne dich los.“ Matteo protestiert, baut aber weiter. Seine Mutter dreht sich um, sagt laut „Tschüss, ich gehe!“, öffnet die Wohnungstür und macht einen Schritt in den Hausfl ur. Matteo fängt vor Schreck an zu weinen und rennt ihr hinterher.
Unrealistische Drohungen
Das kennt wohl jeder, der Kinder hat: Man bittet die Sprösslinge, etwas zu tun oder zu lassen, mehrmals und mit Nachdruck. Doch die reagieren einfach nicht. Irgendwann ist die Geduld erschöpft, es platzt der Kragen und man greift zum letzten Mittel, das man kennt: Drohungen und Strafen. „Wenn du jetzt nicht dein Zimmer aufräumst, gibt es heute kein Abendessen!“, oder: „Wenn du weiter so herummaulst, fahren wir nie wieder in den Urlaub!“
So oder ähnlich hören sich die Sätze an, die nichts anderes sind als verzweifelte Versuche, die Kinder irgendwie
zur Mitarbeit zu zwingen. Dass die angedrohten Sanktionen unverhältnismäßig oder gänzlich unrealistisch sind, ist Eltern in dem Moment ziemlich egal. Wer verzichtet schon ernsthaft auf seinen Urlaub, nur weil die Tochter im Jahr
davor auf der Rückbank gequengelt hat?
Schneller, aber kurzer Erfolg
„Wenn Eltern so reagieren, ist das meistens ein Ausdruck von Hilflosigkeit“, sagt Reinhard Baumann, Sozialpädagoge, systemischer Therapeut und Mitarbeiter der Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche in
Fulda. Manche Väter und Mütter kennen keine Alternativen zu Druckmitteln oder glauben, dass das Verhängen von
Sanktionen einfach zum Elternsein dazugehört. Viele greifen, wenn es stressig wird, aber auch unbewusst auf eigene Erfahrungen zurück. Wer in seiner Kindheit von seinen Bezugspersonen mit Drohungen und Strafen erzogen wurde, reaktiviert dieses Verhalten oft in einer belastenden Situation, entgegen aller guten Absichten.
Und es funktioniert ja auch, zumindest kurzfristig. Strafen sind für Eltern auch deshalb so verführerisch, weil sie häufig den gewünschten Erfolg zeigen. Auch Matteo folgt letztlich seiner Mutter, nachdem sie mit dem droht, was ein Kind am meisten fürchtet: von seiner engsten Bezugsperson alleingelassen zu werden. Aber wollen wir das wirklich? Einen Erziehungsstil, bei dem Kinder nur aufgrund von Erpressung Folge leisten? Eigentlich wollten Eltern doch weg von der alten Gehorsamskultur. Wer sein Kind nur mit Angst, Einschüchterung oder Bestechung dazu bringt, das zu tun, was er will, ist genau wieder dort. „Wenn Eltern auf der Stufenleiter der erzieherischen Interventionen
gleich ganz oben einsteigen, ist die Spitze schnell erreicht“, gibt Baumann zu bedenken. Irgendwann werden dem
Kind die Konsequenzen oder auch die in Aussicht gestellten Belohnungen egal. Es verzichtet auf den Spielplatzbesuch
oder den Nachtisch, um seine Integrität zu wahren. Dann haben die Eltern ein Problem: Sie müssen noch stärkere Druckmittel finden. „Dann sind wir schnell wieder bei Herabsetzung, Gewalt und Schlägen“, sagt Baumann, der seit 17 Jahren Eltern bei Erziehungsproblemen berät.
Wer die Eskalationsspirale in Gang setzt, nimmt sich zudem die Möglichkeit, auf einer anderen Ebene mit seinem
Kind in Kontakt zu treten. Dabei geht es in erster Linie darum, dass Eltern authentisch sind, sich also als Menschen mit eigenen Bedürfnissen und Grenzen zeigen. Ein „Ich bin jetzt einfach zu müde, um dir vorzulesen“ ist ehrlicher als ein „Du gehst jetzt sofort schlafen, weil es schon so spät ist.“ Wer zu seinen Gefühlen und Wünschen steht und sie auch artikulieren kann, der ist auch in der Lage, seine Kinder dazu zu bewegen, Dinge zu tun, die sie eigentlich nicht wollen. Sich hinter einem Regelwerk zu verstecken, bringt da oft weniger. Nicht von ungefähr lautet das Mantra des dänischen Erziehungsberaters Jesper Juul: „Eltern müssen sagen, was sie wollen oder nicht wollen“.
Klar kommunzieren
Oft scheitere die Kooperation der Kinder auch daran, dass die Botschaft der Eltern gar nicht bei ihnen ankomme.
Zum Beispiel, wenn diese ihre Anweisungen quasi im Vorbeigehen oder aus einem anderen Zimmer zurufen. „Kinder sind während ihres Spiels wie in eine Höhle abgetaucht und bekommen gar nichts mit.“ Eltern sollten ihre Sprösslinge deshalb sanft aus ihrem Handeln herausreißen und klar sagen, was sie von ihnen wollen. Also zum Kind hingehen, sich zu ihm hinunterbeugen, das Kind an der Schulter oder am Arm berühren, Ich-Botschaften aussenden: „Ich will, dass du jetzt mitkommst. Das ist mir wichtig.“ Wenn das Kind dann das erwünschte Verhalten zeigt, dieses Verhalten mit einem Lob verstärken. „Das hast du toll gemacht.“, oder: „Ich bin stolz auf dich, weil du die Legosteine weggeräumt hast.“
Je klarer und deutlicher Eltern sind, desto leichter können sich ihre Kinder dazu verhalten. „Lassen Sie sich nicht auf endlose Verhandlungen ein, bieten Sie dem Kind lieber eine Brücke“, rät Reinhard Baumann. Matteos Mutter könnte zum Beispiel eine neue Verabredung zum Spielen vereinbaren, um ihrem Sohn das Abschiednehmen zu erleichtern.
Kontraproduktiv seien auch Aussagen wie „Benimm dich endlich!“ oder „Sei brav.“ Kinder wissen dann oft gar nicht, was gemeint ist.
Kindliche Bedürfnisse ernst nehmen
Wenn Kinder nicht reagieren oder gegen die Eltern protestieren, ist es hilfreich, genau hinzuschauen, was hinter dem Verhalten des Kindes steckt. Was sind seine Motive, können wir vielleicht einen Kompromiss finden? Viele Eltern gehen immer noch davon aus, dass Kinder „von Natur aus“ widerständig sind und man diesen Widerstand um jeden Preis brechen muss. Aber mit dieser Haltung tut man sich und dem Kind keinen Gefallen, sagt Familienberater Baumann: „Gehen Sie davon aus, dass Ihre Kinder nicht Ihre Feinde sind, sondern das Liebste, was Sie haben.“
Kinder wollen wertvoll sein, zur Gemeinschaft beitragen – und wenn sie nicht kooperieren, gibt es einen Grund
dafür. Mit dieser Einstellung können Eltern viel mehr erreichen als mit Drohungen und Sanktionen. Das bedeutet aber nicht, dass Kinder keine Grenzen erfahren sollten. Kinder brauchen Führung, doch komme es darauf an, wie diese aussehe, schreibt die Pädagogin Katia Saalfrank in ihrem Buch Kindheit ohne Strafen: „Ist es eine autoritäre, sanktionierende Führung oder eine wertschätzende, die auch die Bedürfnisse der anderen berücksichtigt?“ Die Pädagogin ist überzeugt: Wenn Eltern auf emotionale Wärme und eine enge Bindung zwischen sich und ihrem Kind setzen, entsteht ein konstruktives Miteinander.
Macht ist keine gute Grundlage
Liebevolle Führung bedeutet auch, Kindern beizubringen, dass sie hin und wieder etwas machen müssen, wozu sie
keine Lust haben. Hier können gemeinsam aufgestellte Familienregeln helfen, sagt Reinhard Baumann. „Ich finde es
gut, Arbeiten und Pfl ichten zu teilen. Zimmer aufräumen, Geschirrspülmaschine einräumen, Müll wegbringen können auch schon kleine Kinder. Und es hat auch eine partizipative Komponente, wenn man darüber redet und verhandelt, was Mama oder Papa machen müssen und was das Kind.“
Allerdings müssen Regeln und Pflichten dem Alter und dem Entwicklungsstand des Kindes angepasst sein. Ein
Zweijähriger ist überfordert, wenn er sein ganzes Zimmer allein in Ordnung bringen soll. Die Bauklötze kann er aber
wegräumen. Und den Erwachsenen muss klar sein, dass gleiches Recht für alle gilt: Wer seinem Kind die Handynutzung
beim Essen verbietet, darf nicht selbst mal schnell seine Mails abrufen. Eltern sind immer Vorbilder. Wenn sie die Regeln nicht einhalten, warum sollen es dann die Kinder tun?
Letzen Endes, sagt Familienberater Baumann, gilt auch bei den Familienregeln: Das Ganze funktioniert nur aus der Beziehung und nicht aus einer Machtstruktur heraus. Ein Fünfjähriger hat keine andere Motivation, eine
Geschirrspülmaschine auszuräumen, als seinen Eltern zu zeigen, dass er sie lieb hat und ihnen einen Gefallen tun
will. Und wie unter Erwachsenen auch hat diese Beziehung Höhen und Tiefen. „Ich denke, wir müssen manchmal damit leben, zu verlieren“, sagt Baumann und plädiert für Gelassenheit. „Dann geht das Kind nicht gleich mit, es gibt
Proteste, Streit und Tränen und ich muss mir eingestehen, dass mein Kind jetzt nicht auf mich hören will. Aber
anstatt es mit Strafen und Drohungen zu traktieren, kann ich mir auch sagen: Okay, heute funktioniert es nicht. Aber morgen versuche ich es wieder. Und bis zu deinem 18. Lebensjahr werden wir Zeit genug finden, um genau über diese Dinge zu reden.“