Guten Morgen, Ottifanten“, begrüßt die Sonderpädagogin Christina Carstensen fröhlich die Klasse. Eine Kollegin steht mit einem Stapel Arbeitsblätter neben ihr. In den nächsten zwei Stunden sollen die 24 Schüler Sachrechnen und Schreiben üben, in Kleingruppen und in zwei Räumen. Die fünf Minuten Begrüßung und ein paar Erklärungen zu den Aufgaben des Tages sollen der einzige Frontalunterricht an diesem Morgen bleiben. Kaum ist Carstensen verstummt, eilen die Kinder zu ihren Fächern, kramen Hefte hervor und finden sich in Arbeitsgruppen zusammen. Leises Gemurmel hier, konzentrierte Stille dort. Zwei Schüler haben sogar Kopfhörer aufgesetzt, um besser rechnen zu können. Fast schon heimelig wirkt es in dem Klassenraum der Hamburger Bugenhagenschule Groß Flottbek.
Die kleine Grundschule mit ihren rund 100 Schülern ist eine von 73 Privatschulen in Hamburg. Getragen wird sie von der Evangelischen Stiftung Alsterdorf. Deren Schwerpunkt liegt in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung. Auch an der Grundschule wird nach einem reformpädagogischen Konzept und inklusiv unterrichtet. Von 25 Schülern haben vier einen Förderbedarf, der reicht von chronischen Erkrankungen über Lernschwierigkeiten bis hin zu psychischen Störungen. Um jedem Kind gerecht zu werden, wird jahrgangsübergreifend, ganztägig und binnendifferenziert unterrichtet. Es gibt individuelle Lernpläne, aber keine Noten oder Hausaufgaben.
Individuelle Bedürfnisse
Vor allem die personelle Ausstattung und der Schwerpunkt Inklusion unterscheiden die Bugenhagenschule von staatlichen Grundschulen. Zwei PädagogInnen pro Klasse unterrichten die Kinder, zeitweilig werden diese außer dem noch durch ErzieherInnen und SchulbegleiterInnen unterstützt. Die Schule bietet außerdem Physiotherapie und Logopädie an – davon können viele staatliche Grundschulen, die vor der Herausforderung Inklusion stehen, nur träumen.
„Das große pädagogische Engagement ist wichtig, damit kein Kind in unserer heterogenen Schülerschaft untergeht“, erklärt Carstensen. Dann erzählt sie von einem sehr jungen Schüler, der ohne Probleme Aufgaben für die vierte Klasse rechnet, von seinem älteren Freund, der beim Lösen von Matheaufgaben am liebsten Bilder malt, aber große Probleme mit dem Kopfrechnen hat. Von einem Mädchen, das sich sehr fürsorglich um die jungen Mitschüler kümmert, von eine Flüchtlingskind, das zum Schaukeln oder CD-Hören in den Ruheraum geht, wenn es sich vom Schulalltag überfordert fühlt. Jedes dieser Kinder findet hier seinen individuellen Platz. Die bunte Mischung entsteht vor allem durch das Einzugsgebiet: Die Schule liegt auf der Grenze zwischen einem Hamburger Nobelviertel mit Jugendstilvillen und einem sozialen Brennpunkt, in dem Häuser und Arbeitslosigkeit hoch sind. Dem gängigen Klischee von einer elitären Privatschule entspricht diese Grundschule jedenfalls nicht.
Damit ist sie nicht allein, wie ein Blick in die Statistik verrät. Zwar gibt es in Deutschland auch sehr teure Privatschulen, gerne mit einem „International“ im Namen, oft in einer Großstadt. Hier legen die Kinder kein normales Abitur ab, sondern ein „International Baccalaureate“, für 1 000 Euro im Monat, auf Englisch und mit Poloclub inklusive. Ihr Anteil an den rund 3 600 allgemeinbildenden Privatschulen ist aber eher gering. Die allermeisten Privatschulen in Deutschland folgen dem offiziellen Lehrplan und werden zu rund 85 Prozent aus staatlichen Mitteln finanziert. Der Elternbeitrag liegt zwischen 50 und 200 Euro im Monat. Auch die Träger sind wenig elitär. 60 Prozent aller Privatschulen werden von den Kirchen getragen. Viele von ihnen unterscheiden sich von staatlichen Schulen nur durch die Morgenandacht. Auch die 245 Waldorfschulen und 400 Montessori-Schulen machen einen nicht unerheblichen Anteil der Schulen in freier Trägerschaft aus. In strukturschwachen, ländlichen Regionen Ostdeutschlands haben Privatschulen noch eine andere Funktion: Wenn sich staat liche Bildungseinrichtungen angesichts sinkender Schülerzahlen zurückziehen, sind sie oft die einzige Alternative.
So vielfältig wie die Schulen sind auch die Gründe, warum Eltern ihr Kind in einer privaten Einrichtung anmelden. Für manche sind gute Rahmenbedingungen für Inklusion, ein spezielles pädagogisches Konzept oder mehrsprachiger Unterricht ausschlaggebend, für andere ist die private Schule einfach nur die nächste am Ort. Generell sind Pauschalisierungen schwierig. Dass Privatschulen durchschnittlich besser ausgestattet und innovativer als staatliche sind, stimmt nicht. Es gibt vielmehr gute und schlechte Schulen – auf beiden Seiten. Das zeigen auch Studien.
Nicht jede Schule ist gut
„Das Bild der Privatschule als eine bessere, aber auch teurere Alternative zum staatlichen Schulsystem stimmt nur bedingt“, erklärt Kai Maaz. Der Soziologe beschäftigt sich am Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation in Frankfurt mit der Struktur des deutschen Bildungswesens und ist Mitautor der Studie Privatschulen in Deutschland. Im Auftrag des Netzwerks Bildung der Friedrich-Ebert-Stiftung verglichen die Bildungsforscher die Ergebnisse von schulischen Leistungsmessungen und analysierten unterschiedlichste Studienergebnisse. Ihr Fazit: Die Unterschiede zwischen staat lichen und privaten Schulen sind äußerst gering bis nicht vorhanden. Eine Privatschule sichert weder einen besseren Abschluss, noch ist sie per se besser ausgestattet als eine staatliche. Einzig in den schulischen Leistungen liegen Privatschüler etwas vorne. Grundschüler rechnen besser, lesen flüssiger und schreiben eher fehlerfrei. „Das liegt nicht unbedingt an besseren pädagogischen Konzepten oder einer besonderen Ausstattung, sondern eher am familiären Hintergrund“, sagt Maaz. Privatschüler stammen häufiger aus gut situierten und bildungsnahen Haushalten.
Doch die Untersuchung beweist noch mehr als die relativ geringen Unterschiede in den Leistungen. Privatschulen sorgen weder für eine Spaltung des Bildungssystems, noch bringen sie es entscheidend voran. In der öffentlichen Debatte werden sie einfach gerne überschätzt – im positiven wie im negativen Sinne.
Das Leitbild zählt
Weil der Begriff „Privatschule“ schnell falsche Assoziationen weckt, spricht auch Ines Barske, Schulleiterin der Bugenhagenschule, lieber von einer Schule in freier Trägerschaft. „Wir sind alles andere als elitär oder eine Anlaufstelle für das Bildungsbürgertum. Wir verstehen uns als eine bunte Schule und legen großen Wert auf ein respektvolles und friedliches Miteinander“, sagt sie. Zu diesem Leitbild gehöre es, soziale Kompetenzen zu vermitteln, Neugier zu wecken und das Selbstbewusstsein zu stärken. Schmunzelnd erzählt sie dazu eine Anekdote: Ein befreundeter Schulleiter beklagte sich halb im Scherz bei ihr, dass ihre ehemaligen Schüler immer so anstrengend seien und ständig zum Diskutieren in sein Büro kämen. Barske widersprach ihm: Die Kinder seien nicht anstrengend, sondern einfach nur selbstbewusst und interessiert. Sie hätten eben gelernt nachzufragen, und seien es gewohnt, als Persönlichkeiten ernst genommen zu werden. Obwohl die Schule einen evangelischen Träger hat und der Glaube im Schulalltag seinen festen Platz, steht die Schule Kindern aus allen Glaubensgemeinschaften offen. „Wichtiger als die Konfession ist es, dass die Kinder einen Platz in der Schulgemeinschaft finden“, sagt Barske. Auch Christina Carstensen betont das soziale Miteinander und die positive Schulgemeinschaft: „Im Klassenzimmer spielen Geld, Herkunft oder der pädagogische Anspruch der Eltern eine untergeordnete Rolle. Dafür sorgt der wertschätzende Umgang miteinander.“ Wie gut das funktioniert, stellte unlängst eine kleinwüchsige Praktikantin fest. Am Ende ihres ersten Tages kam sie begeistert ins Lehrerzimmer und berichtete, dass sie kein einziger Schüler gefragt hätte, warum sie so klein sei. Das hatte sie noch nie erlebt.
Privatschulen in Zahlen
- Es gibt rund 3 600 allgemeinbildende Privatschulen in Deutschland. Das sind etwa elf Prozent aller Schulen. Den höchsten Anteil der Privatschulen machen die Grund- und Förderschulen aus.
- Etwa zehn Prozent aller Schüler in Deutschland besuchen eine Privatschule, in den letzten 20 Jahren hat sich der Anteil verdoppelt. In anderen europäischen Ländern ist der Anteil deutlich höher, gerade in Italien oder Frankreich ist der Anteil um ein Vielfaches höher.
- Rund 2 000 Privatschulen befinden sich in kirchlicher Trägerschaft, 400 freie Schulen sind Montessori-Schulen, etwa 245 Walddorfschulen.