Der Fachkräftemangel in deutschen Kitas ist nun Chef(in)-Sache. Familienministerin Franziska Giffey will mit dem „Gute-Kita- Gesetz“ die Arbeitsbedingungen in den Einrichtungen und die finanzielle Situation der Auszubildenden verbessern und neue Perspektiven schaffen. Der neue Elan aus Berlin kommt nicht von ungefähr: Bis 2025 fehlen in deutschen Kitas rund 191 000 Pädagoginnen und Pädagogen – optimistisch geschätzt. In Zeiten des Fachkräftemangels rücken auch die Männer als ein Teil der Lösung in den Fokus. Aktuell liegt die bundesweite Männerquote bei sechs Prozent. Ließe sich ihr Anteil auf zehn Prozent erhöhen, brächte das 30 000 neue Erzieher. Über solche Ziele kann man im Piraten-Nest nur müde schmunzeln. In der Hamburger Kita arbeiten gleich acht männliche Fachkräfte, nur zwei Teams sind ausschließlich weiblich besetzt. Damit hat sie die höchste Männerquote der Stadt und sicherlich eine der höchsten im Land. Selbst im Krippenbereich arbeiten drei Männer. Und das ist eine echte Ausnahme. Bundesweit ist die Erzieherquote bei den ganz Kleinen am niedrigsten. Richtig wundern mag man sich über die Zahlen nicht: Schließlich liegt die Kita der Pestalozzi-Stiftung Hamburg mitten im Stadion des FC St. Pauli. Vom Balkon aus blickt man direkt auf den Rasen. Die New York Times kürte das Piraten-Nest sogar zum „World’s Coolest Kindergarten“.
Den Traumjob gefunden
Doch das liegt nicht nur am Stadion. So interessiert sich Ole Baumert kaum für Fußball. Im Millerntor war er zuletzt vor 20 Jahren und das für ein Konzert. Er schätzt eher die erfüllende Arbeit mit den Kindern, das junge und bunte Kollegium, die zentrale Lage. Seit knapp vier Jahren kümmert er sich in der Pinguin-Gruppe um zwölf windeltragende Kinder zwischen ein und drei Jahren. Ein sehr dankbarer Job, wie der 37-Jährige erklärt: „Ich habe vorher im Elementarbereich gearbeitet. Doch die Beziehung und Bindung zu den Kleinen und ihren Eltern ist in der Krippe viel enger. Außerdem machen die Kinder in diesem frühen Alter die spannendsten und größten Fortschritte.“ Wenn die neuen Pinguine in die Gruppe kommen, können sie oft kaum laufen, geschweige denn sprechen. Am Ende wechseln dreijährige, fast selbstständige Charakterköpfe in den Elementarbereich ein Stockwerk höher. Dass er einmal Kinder beim Aufwachsen begleiten möchte, stand für Baumert spätestens nach dem Zivildienst in einem heilpädagogischen Kindergarten fest. Die Arbeit dort machte ihm so viel Spaß, dass er ein Jahr länger blieb und danach in Dänemark Pädagogik studierte, Praktika in Kindergärten inklusive.
Männliche Erzieher sind ein Gewinn
Politik und Pädagogik sind sich einig: Es braucht mehr männliche „Überzeugungstäter“ wie Ole Baumert. Und der Fachkräftemangel ist nur ein Grund dafür. Nina Greve ist stellvertretende Leiterin des Piraten-Nests. Ihre Erfahrung: „Die Stimmung ist durch die heterogeneren Teams viel ausgeglichener. Die Männer bringen außerdem neue Erfahrungen, andere Perspektiven und pädagogische Anregungen mit“, sagt sie. Und am wichtigsten: Von den gemischten Teams profitieren auch die Kinder. Eine norwegische Studie legt sogar nahe, dass Kinder, die Kindergärten mit gemischten Teams besucht haben, sich kognitiv besser entwickeln. „Vielfältiges Personal eröffnet den Kindern mehr Entwicklungschancen. Das gilt nicht nur für das Geschlecht, sondern auch für unterschiedliche kulturelle Hintergründe und Interessen“, erklärt Stephan Höyng, Professor für Pädagogik an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen in Berlin. Durch Vielfalt erleben Mädchen und Jungen, wie unterschiedliche Geschlechter und Kulturen zusammenleben, und finden leichter Vorbilder. Dabei gehe es laut Höyng nicht ums Raufen oder Kicken. Das seien ohnehin Klischees. Mit kleinen Kindern Ball spielen oder toben könnten Frauen genauso gut wie Männer vorlesen oder kuscheln. Durch vorgelebte Gleichberechtigung lernten die Kinder aber, dass sie jetzt oder später vieles zugleich sein können, unabhängig vom Geschlecht.
Deshalb wünscht Höyng sich, dass auch die Einrichtungen selbst auf geschlechterbewusste Pädagogik setzen und Aufgaben im Team möglichst ausgewogen verteilen. Im Piraten-Nest klappt das sehr gut. Wickeln muss jeder, genauso wie Fußball spielen. Sonderregelungen – durch das Anti-Diskriminierungsgesetz ohnehin verboten – gibt es nicht. Wer welche Aktivitäten der Kinder begleitet, entscheiden die Teams selbst. „Ich bin kein Bastelkönig. Das kann meine Kollegin einfach besser. Dafür baue ich gerne mit den Kindern oder spiele Eisenbahn. Auch Singen steht bei mir hoch im Kurs“, erzählt Baumert. Aus seiner Sicht habe das aber wenig mit Männlichkeit zu tun, sondern eher mit eigenen Interessen und Fähigkeiten. Auch beim Kuscheln und Vorlesen machen die Kinder der Pinguin-Gruppe keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Das gilt auch für die meisten Eltern auf St. Pauli. Viele sind bei der Anmeldung sehr angetan vom hohen Männeranteil. So vorbehaltlos geht es aber längst nicht in allen Kitas zu. „Der Pädophilie-Verdacht wurde bei uns im Studium oft thematisiert. Zum Glück kam nur einmal eine Mutter nach einem Praktikum auf mich zu und gestand mir, dass sie mich anfangs skeptisch beäugt habe“, berichtet Baumert. Erst die begeisterten Schilderungen ihrer Kinder von dem coolen, bunt tätowierten Praktikanten hätten ihre Zweifel beseitigt.
Misstrauen von Eltern und Kolleginnen
Kein Einzelfall: Laut einer Umfrage des Delta-Instituts für Sozial- und Ökologieforschung wünschen sich zwar 62 Prozent aller Eltern mehr Männer in Kitas. Gleichzeitig gaben 32 Prozent zu, schon mal an die Gefahr eines Missbrauchs gedacht zu haben. Der Generalverdacht: Ein Mann, der gerne mit Kindern arbeitet, könnte einen Hang zur Pädophilie haben. Bedenken, von denen sich auch einige Kolleginnen nicht freimachen können. „Bei einer Fortbildung wurde ich einmal nach unseren Erfahrungen mit männlichen Kollegen gefragt. Eine Leitung suchte zwar explizit Erzieher für ihr Team, dachte gleichzeitig über spezielle Regelungen für die Männer nach“, berichtet Greve. So sollten die Männer nur bei offener Tür wickeln und die Kinder nicht allein auf die Toilette begleiten dürfen. Eine Anekdote, die auch Professor Höyng nicht überrascht. Viele männliche Erzieher würden in ihrem Berufsalltag mit ähnlichen Vorbehalten konfrontiert. „Statt eines Generalverdachtes brauchen wir Schutzkonzepte für alle Kitas, die für alle Pädagogen gelten und Kinder effektiv vor Missbrauch schützen“, erklärt der Forscher.
Den Beruf attraktiver machen
Immerhin: Die meisten Männer lassen sich von solchen Vorbehalten nicht abschrecken. Umfragen zeigen sogar, dass die Arbeitszufriedenheit unter Erziehern sehr hoch ist. Dank der erfüllenden Arbeit mit den Kindern und der großen Gestaltungsfreiheit – und trotz widriger Umstände. Gleichzeitig hat die Arbeit in der Kita aber auch Schattenseiten, die viele junge Männer ab schrecken. Die Arbeitsbelastung ist gerade in Zeiten des Fachkräftemangels erheblich. Zeit für pädagogische Projekte ist knapp, der Betreuungsschlüssel ist in vielen Einrichtungen hoch. Auch die Bezahlung ist mit durchschnittlich 2 500 Euro brutto alles andere als rosig. Zudem werden viele Stellen nur in Teilzeit besetzt und Zusatzqualifikationen kaum vergütet, auch die Aufstiegschancen sind gering. Gerade für die Männer, die immer noch häufig die Hauptverdiener in der Familie sind, ist das ein wichtiges Argument. Dazu kommt die mangelnde Anerkennung. Was für eine wichtige und anspruchsvolle Arbeit pädagogische Fachkräfte leisten, wird in unserer Gesellschaft immer noch zu wenig gewürdigt – weder auf dem Gehaltszettel noch von Seiten der Eltern. Genau das ist allerdings ein Problem, das beide Geschlechter betrifft.
Sollen Erzieher Kinder wickeln?
Das sagt der Erzieher
Ja. Erzieher sollen wickeln, füttern, ins Bett legen und trösten – alles Dinge, die Männer früher bei ihren eigenen Kindern nicht gemacht haben und die heute selbstverständlich sind. Und sie sollen dies achtsam und respektvoll tun. Denn Kinder brauchen sensible Bezugspersonen, die sie liebevoll pflegen und sich um alle ihre Bedürfnisse kümmern. Ich denke, jede andere Regelung wäre für die Kinder verwirrend. Schon für kleine Kinder ist es wichtig zu erfahren, dass Männer genauso fürsorglich mit ihnen umgehen können wie Frauen. Trotzdem kann ich verstehen, dass manche Eltern – aufgrund von einzelnen Missbrauchsfällen – den Erziehern nicht vertrauen. Oder dass sie es aufgrund ihres kulturellen Hintergrunds nicht gewohnt sind, Männern in Pflegeberufen zu begegnen. Das finde ich für einen Beruf mit einem Männeranteil von etwa 6 Prozent „normal“. Mit der Zeit wird das kein Thema mehr sein. Frauen in Führungspositionen haben es auch nicht leichter. Ich glaube, wir sollten nicht diskutieren, ob wir die Kinder wickeln, sondern wie. Und das betrifft alle Fachkräfte, Männer wie Frauen.
Raúl Páramo ist Erzieher in der Kita Rieselfeld in Freiburg und Lehrbeauftragter
an der Pädagogischen Hochschule
Das sagt die Mutter
In der Einrichtung meiner beiden Töchter haben bis vor Kurzem zwei männliche Fachkräfte gearbeitet.
Sie in ihrer Arbeit einzuschränken wäre meines Erachtens genauso falsch wie den Kindern zu vermitteln, dass fürs Wickeln nur Frauen zuständig sind. Wer Erzieher unter Generalverdacht stellt, ist ungerecht all denjenigen gegenüber, die den Beruf aus Leidenschaft machen. Natürlich ist das Thema Missbrauch allgegenwärtig, allein schon durch die Medienberichterstattung, und auch bei mir als Mutter präsent. Deshalb ist es wichtig – und zugegebenermaßen nicht immer leicht, sich nicht in Panik versetzen zu lassen. Denn das würde wahrscheinlich dazu führen, dass man nicht nur über ein Wickelverbot nachdenkt, sondern auch darüber, ob Erzieher Kinder überhaupt auf den Schoß nehmen oder mit ihnen kuscheln dürften – und das wäre sehr schade! Mein Mann und ich müssten uns außerdem überlegen, ob unsere Tochter weiterhin zum Fußball gehen darf, wo zwei Männer die Kinder trainieren. Das würde alles zu weit führen. Deshalb legen wir in unserer Erziehung den Fokus darauf, unsere Kinder zu stärken, ohne ihnen Angst zu machen.
Melanie Wolter, Mutter von drei Kindern im Alter von fünf Jahren,
zwei Jahren und 10 Monaten, lebt in Freiburg
kizz Info
Erzieher in Zahlen
Bis weit in die Neunzigerjahre war Erzieherin ein Frauenberuf. Erst langsam wendet sich das Blatt. Heute liegt die bundesweite Männerquote in Kindertagesstätten bei 5,85 Prozent. Immerhin: 2011 waren es 3,6. Deutlicher fällt der Anstieg in absoluten Zahlen aus: 2017 arbeiteten 35 000 Männer in Kitas, 2011 waren es nur knapp die Hälfte. Auch die Anzahl der Männer in den Ausbildungsjahrgängen hat sich deutlich erhöht, das gilt auch für die Quereinstiegsprogramme. Außerdem zeigt sich in Umfragen, dass sich inzwischen 20 bis 25 Prozent der männlichen Schüler einen pädagogischen Beruf grundsätzlich vorstellen können. Den höchsten Anteil von männlichen Erziehern haben übrigens Stadtstaaten wie Hamburg oder Berlin mit über 10 Prozent. In eher ländlichen und konservativ geprägten Bundesländern wie Bayern oder Thüringen liegt die Quote bei kaum 4 Prozent.