Linda findet neuerdings alles doof. Grundsätzlich will die Vierjährige genau mit dem spielen, was ihre große Schwester gerade hat. Gibt es beim Ausflug belegte Brote, möchte sie Eis. Gibt es ein Eis, möchte sie zwei. Steht ein Besuch bei der Oma an, will sie in den Zoo – und kaum ist sie im Zoo, möchte sie nach Hause. „Es ist zum Verzweifeln, man kann ihr einfach nichts recht machen“, sagt ihre Mutter.
Klar, jedes Kind nörgelt ab und zu. Wenn es Hunger hat zum Beispiel, müde ist oder krank wird. Aber es gibt auch kleine Dauernörgler, und wer sich in Elternforen umschaut, merkt schnell, dass Lindas Mutter mit ihrem Problem nicht allein dasteht. Viele Eltern tauschen sich dort darüber aus, wie anstrengend es ist, dass ihre Kinder bei jeder Kleinigkeit maulen und quengeln. Eine Userin schreibt: „Mein Sohn will ständig bespielt und bespaßt werden. Mache ich das mal nicht, wird er je nach Tagesform weinerlich, maulig oder wütend.“ Grund genug, mal genauer hinzuschauen: Was steckt hinter dem ewigen Genörgel?
Viele Erscheinungsformen – ein Grund
Unzufriedenheit bedeutet ja erst einmal nichts anderes als: „Ich habe ein Bedürfnis, das nicht befriedigt wird.“ Das führt zu Stress. Wenn ein kleines Kind zum Beispiel hungrig ist und aufs Essen warten muss, gerät es zunehmend unter Anspannung. Hält dieses unangenehme Gefühl länger an, äußert das Kind das durch Quengeln, Weinen oder gar Wutanfälle. Es könnte also alles ganz einfach sein: Wir müssten nur das Bedürfnis befriedigen, und schon ist das Kind zufrieden. Warum aber mault Linda beim Ausflug auch dann noch, wenn sie das Eis bekommen hat? Die Psychologin und Bindungsforscherin Fabienne Becker- Stoll, Leiterin des Staatsinstituts für Frühpädagogik in München, sagt: „Weil das Eis gar nicht der wahre Grund des Quengelns ist. Das eigentliche Bedürfnis, das dahintersteckt, kann Linda mit ihren vier Jahren nur nicht ausdrücken.“ Es geht hier also gar nicht um das Eis. Worum dann?
Die vermeintlichen Quengelgründe können noch so unterschiedlich sein, im Grunde geht es stets um dasselbe: „Nölendes Verhalten fordert immer die Aufmerksamkeit der Bindungsperson ein“, erklärt Fabienne Becker-Stoll. „Die Botschaft ist: Ich brauche deine Hilfe. Du hast nicht gemerkt, dass ich mich nach deiner Zuwendung sehne. Jetzt ist es Zeit, dass du dich wieder auf mich konzentrierst und die Zügel in die Hand nimmst, denn ich bin mit meinen Gefühlen überfordert. Übernimm bitte die Verantwortung.‘“
Wird also das formulierte Bedürfnis („Ich möchte ein Eis“) befriedigt, besteht das wahre Bedürfnis („Ich möchte Aufmerksamkeit“) weiterhin und damit auch das Gefühl der Anspannung. Das Kind nörgelt also weiter („Ich möchte noch ein Eis“). Dies wiederum nervt die Eltern und macht sie ungeduldig („Dir kann man es ja nie recht machen“). Sie geraten selbst in eine Stresssituation und werden unsicher. Und diese Unsicherheit ist exakt das Gegenteil dessen, was das Kind in diesem Moment braucht. Verantwortung zu übernehmen bedeute, stärker zu sein als das Kind, ihm feinfühlig Ruhe und Struktur zu geben, die Führungsrolle zu übernehmen, sagt Becker-Stoll.
Kinder brauchen exklusive Zuwendung
In der akuten Situation hilft daher erst einmal nur ein Notfallplan: tief durchatmen, so ruhig wie möglich werden und sich dann dem Kind zuwenden. Manchmal genüge es schon, das Kind eine zeitlang auf den Arm zu nehmen, kurz ganz bei ihm zu sein, sagt Fabienne Becker-Stoll.
Um dem Dauernörgeln langfristig beizukommen, empfiehlt sie, das Kind aufmerksam zu beobachten, denn „das schwierige Verhalten kommt fast nie aus heiterem Himmel – es kündigt sich vorher an.“ Wenn ein Kind die Nähe seiner Eltern sucht, sollte es sie auch bekommen. „Wenn es sich emotional unwohl fühlt, braucht es Trost durch Körperkontakt, feinfühlige Zuwendung, echte Aufmerksamkeit“, so die Expertin. „Materielle Geschenke und oberflächliches Beisammensein befriedigen dieses Bedürfnis nicht und lassen die Unzufriedenheit eher noch zunehmen.“ Natürlich freut sich ein Kind, das sich nicht wohlfühlt, zum Beispiel über ein neues Buch. Aber das eigentliche Geschenk ist, dass seine Mutter oder sein Vater das neue Buch gemeinsam mit ihm anschaut, ihm vorliest, dass es sich dabei ankuscheln kann.
„Feinfühlige Zuwendung“ nennt Becker-Stoll das. Damit meint sie nicht, dass wir unserem Kind rund um die Uhr zur Verfügung stehen müssen. Es geht vielmehr darum, dass wir ihm immer wieder Zeit schenken, in der wir mit allen Sinnen bei ihm sind. Mit dieser „Quality-Time“ kommen wir dem Nölen zuvor. Je nach Familiensituation kann das zum Beispiel eine Stunde am Abend sein, in der die Eltern mit dem Kind spielen, ihm etwas vorlesen oder einfach nur emotional präsent sind. Ohne dabei aufs Handy zu schauen oder nebenher andere Dinge zu erledigen. Becker-Stoll: „Das Wertvollste, das man einem Kind schenken kann, ist Zeit. Zeit mit fein fühliger Interaktion. Das ist das wirksamste Mittel gegen das Dauernörgeln.“