Die kulturelle Vielfalt wird schon am Eingang sichtbar. „Tür bitte schließen“ steht hier auf Deutsch, Englisch, Türkisch, Albanisch und in arabischer Schrift. Die Werkstatt-Kita Koppelstieg liegt im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg, in dem viele Sprachen und Kulturen zum Alltag gehören. Der Stadtteil befindet sich im steten Wandel – irgendwo zwischen Problemviertel und Szenekiez. So bunt wie seine Bewohner sind auch die Kinder der äußerst beliebten Einrichtung des Arbeiter-Samariter- Bundes (ASB): die Enkel der ersten Einwanderer-Generation, Kinder aus Großstadtfamilien auf der Suche nach bezahlbarem Wohnraum oder solche mit speziellem Förderbedarf. Fatih Karabag mag diese bunte Mischung. „Ich kenne das Viertel seit frühester Kindheit. Es ist wirklich schön hier, aber es gibt auch einige Probleme. Als Pädagoge kann ich einen Beitrag dazu leisten, dass die Kinder gut aufwachsen und bessere Startchancen haben“, sagt der 38-jährige Erzieher. Für viele Kinder ist er eine wichtige Bezugsperson, eine Art großer Bruder und bester Kumpel. Vielleicht auch, weil sein Weg in die Kita alles andere als klassisch verlief.
Über Breakdance kommt er zur Jugendarbeit. Sein Können gibt er im Haus der Jugend dem Nachwuchs weiter. „Tanzen war und ist für viele Jugendliche eine Perspektive und Alternative zur Straße. Ich habe so erfahren, wie erfüllend die Arbeit mit Kindern sein kann“, sagt er. Die Ernüchterung kommt beim Arbeitsamt. Die Berufsberaterin erklärt dem Realschüler mit eher durchschnittlichen Noten, dass man für die Jugendarbeit Sozialpädagogik studieren muss. Den Beruf des Erziehers erwähnt sie nicht. Abitur und ein Studium sind für Karabag damals unerreichbar. Deshalb lernt er Elektroinstallateur. Zehn Jahre bleibt er im Handwerk, mit gutem Verdienst und Perspektive. Dann zieht er die Reißleine und bewirbt sich in der Kita Koppelstieg als Praktikant. Die neue Welt gefällt ihm gut, er beschließt zu bleiben. Ein Jahr lang jobbt er als Hausmeister, danach wird ein berufsbegleitender Ausbildungsplatz frei.
Das Werben um mehr Pädagogen wie Fatih Karabag gehört zur Fachkräfteoffensive von Bundesfamilienministerin Franziska Giffey. Bis 2025 fehlen in deutschen Kitas rund 191 000 Pädagog- Innen, optimistisch geschätzt. Dem Fachkräftemangel will Giffey mit besseren Arbeitsbedingungen und höheren Gehältern entgegentreten. Das soll auch mehr Menschen mit Migrationshintergrund für die pädagogische Arbeit begeistern. Derzeit haben nur elf Prozent der Kita-Mitarbeitenden ausländische Wurzeln. In der deutschen Wirtschaft liegt ihr Anteil bei 18 Prozent. Wenn diese Quote auch in Kitas erreicht würde, wären das 49 000 Fachkräfte. Hinter der Zahl verbirgt sich großes Potenzial – darin sind sich Pädagogik und Politik einig. „Durch vielfältige und multiprofessionelle Teams steigt die Qualität der frühkindlichen Bildung. Es gibt mehr Blickwinkel, mehr pädagogische Impulse, mehr Mut zu Neuem“, erklärt Yildiz Sakli, Erzieherin und Gender- und Diversitätsbeauftragte beim Kita-Träger Ina.Kinder.Garten.
Vielfalt ist eine Bereicherung
Vor allem die Kinder profitieren davon, sagt Sakli. Sie erleben in gemischten Teams das Miteinander von Geschlechtern, Generationen und Kulturen. Dadurch bieten sich mehr Identifi kationsmöglichkeiten, mehr Entwicklungschancen, mehr ungewöhnliche Spielideen. Vorausgesetzt natürlich, die Einrichtungen leben und fördern die Vielfalt bewusst. Das bedeutet nicht, dass die Kollegin mit türkischen Wurzeln automatisch die Ausländerexpertin und für Sprachförderung zuständig ist. Heterogenitätsbewusste Leitungen achten auf die Interessen der Pädagogen und verteilen wichtige Aufgaben auf alle Schultern. „Pädagogik braucht Menschen, die sich für die Arbeit mit Kindern begeistern. Das sollte im Vordergrund stehen und nicht das Geschlecht, die Herkunft oder das Alter“, sagt Sakli. In der Kita Koppelstieg gelingt das ganz gut. „Vielfalt tut Kindern gut. Sie gehen offen und neugierig mit Anders sein um. Genau das sollten wir fördern. Damit legen wir den Grundstein dafür, dass aus den Kindern tolerante und weltoffene Erwachsene werden“, sagt Kita-Leiterin Luisa Solanas. Vielfalt positiv vorzuleben und immer wieder zu thematisieren, sei deshalb eine gemeinsame Aufgabe aller Pädagogen. Zum Beispiel wurden gerade Kinderbücher angeschafft, in denen die Charaktere nicht nur blond und angepasst sind wie die erfolgreiche Kinderbuchfigur Conni. Außerdem sprechen die Erzieherinnen und Erzieher regelmäßig mit den Kindern über Anderssein und Rollenbilder. Ein Ansatz, der hilft, Vorurteile abzubauen. „Kinder erkennen Unterschiede zwischen den Menschen, haben aber Vorurteile oder Berührungsängste. Sie wollen das Anderssein trotzdem verstehen. Deshalb sind Erklärungen auf Augenhöhe wichtig“, sagt Solanas. Eine wichtige Rolle spielt die Vielfalt im Team.
In der Kita Koppelstieg arbeiten PädagogInnen aus vielen Nationen und Kulturkreisen zusammen. Die Männerquote ist hoch. Für Integration und Sprachförderung sind alle zuständig. Die anderen Aufgaben werden nach eigenen Vorlieben verteilt. Begünstigt wird dieser Ansatz durch das Werkstattkonzept. Statt fester Gruppen gibt es Räume für Bewegung, Rollenspiele oder das Bauen. Die Kinder können selbst entscheiden, was sie am liebsten machen möchten.
Persönliche Vorlieben fließen ein
Fatih Karabag ist für den Bauraum verantwortlich. Hier herrscht gerade konzentrierte Stille. Eine Gruppe von Kindern versucht, eine Mauer aus großen Bauklötzen zu errichten. „Bei mir in der Werkstatt können die Kinder viel ausprobieren“, erklärt der 38-Jährige. „Ich sehe mich vor allem als helfende Hand bei der Umsetzung ihrer Ideen.“ Handwerk und Breakdance sind nicht seine einzigen Talente, auch in der Küche fühlt sich der Hobbykoch wohl. Regelmäßig kocht er deshalb für die Kinder und gemeinsam mit ihnen. Seine Vorlieben haben nichts damit zu tun, dass er ein Mann ist oder türkische Wurzeln hat, erklärt er, sondern eher mit persönlichem Interesse und sozialer Prägung. Das gilt auch für sein großes Engagement in Sachen Sprachförderung. „Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man in der Grundschule kaum Deutsch spricht. Vielleicht lege ich deshalb so großen Wert auf die Sprache“, sagt Karabag. Das beste Mittel zur Sprachförderung ist aus seiner Sicht das Sprechen – beim Spielen, im Morgenkreis, im Alltag. Er unterhält sich gerne mit Kindern, hört zu, fragt nach Gefühlen und persönlichen Geschichten. Diese große Offenheit kommt gut an. Immer wieder kommen Kinder zu ihm, die ihm ihre Bilder, Konstruktionen oder Kunst stücke zeigen oder etwas erzählen wollen.
Kein pädagogischer Bonus
Mit seinen türkischen Wurzeln hat diese Sympathie vermutlich wenig zu tun. Den Kindern ist es egal, ob sie mit einer Kollegin aus Albanien oder einem Erzieher aus Deutschland spielen. Sie suchen sich ihre Bezugspersonen nach Sympathie aus, nicht nach Hautfarbe oder Geschlecht. Das zeigt auch die Bildungsforschung. Untersuchungen legen nahe, dass ein Migrationshintergrund nicht per se ein pädagogisches Qualitätsmerkmal ist. Ein anderes wichtiges Ergebnis: Ein Kind aus Syrien, Russland oder China fühlt sich nicht automatisch einer Fachkraft aus der Türkei näher als den deutschen Kollegen. Auch eine bessere Sprachförderung durch Fachkräfte mit Migrationshintergrund konnte genauso wenig nachgewiesen werden wie ein intensiveres Verhältnis zu den Eltern. Vielleicht empfinden es deshalb viele Fachkräfte mit Migrationshintergrund als diskriminierend, wenn sie in die Integrationsschublade gesteckt und mit entsprechenden Aufgaben betraut werden. In einer Befragung der Erziehungswissenschaftlerin Bedia Akbas von der Universität Oldenburg berichteten viele Pädagogen mit fremden Wurzeln von solchen Rollenzuschreibungen, aber auch von Diskriminierungserfahrungen durch offenen Rassismus.
Fatih Karabag ist in seiner Arbeit als Erzieher bisher weder Vorurteilen noch Fremdenfeindlichkeit begegnet. Im Gegenteil. Viele Eltern, aber auch Freunde und Bekannte, sind begeistert von einem Mann im Elementarbereich. In dieser wachsenden Offenheit sieht Karabag ein großes Potenzial für mehr Männer und mehr Menschen mit Migrationshintergrund in der Kita. „Vielfalt ist eine Lösung für die Zukunft. Wenn Kinder erleben, dass sich auch Männer um Kinder kümmern und Emotionen zeigen, verändern sich Rollenbilder und das Interesse an pädagogischen Berufen wächst“, sagt er.
Ob dieser gesellschaftliche Wandel das Interesse am Erzieherberuf bald deutlich steigern wird, ist fraglich. Dafür braucht es noch andere Argumente, zum Beispiel mehr Geld und bessere Arbeitsbedingungen. Das Einstiegsgehalt für Fachkräfte liegt bei rund 2 500 Euro brutto und reicht in Großstädten kaum zum Leben. Auch eine flächendeckende Ausbildungsvergütung wie in der Wirtschaft oder Industrie gibt es bisher noch nicht. Dazu kommt die hohe Arbeits belastung: In neun von zehn Kitas gibt es unbesetzte Stellen, was Mehrarbeit für die restlichen Kollegen bedeutet. Trotzdem werden viele Stellen nur in Teilzeit besetzt und Zusatzqualifikationen kaum vergütet. Auch die Aufstiegschancen sind gering. Darunter leiden besonders Fachkräfte mit Migrationshintergrund, wie die Studie der Universität Oldenburg belegte. Sie sind häufiger als andere Kollegen befristet beschäftigt und arbeiten seltener in Leitungs positionen. Dazu kommt die mangelnde Anerkennung: Die vielfältige und anspruchsvolle Arbeit der ErzieherInnen und ihre Bedeutung für die Gesellschaft wird immer noch unterschätzt – sowohl auf dem Gehaltszettel als auch vonseiten einiger Eltern. Ein Problem, das allerdings alle Fachkräfte betrifft, männlich, weiblich, mit und ohne Migrationserfahrung.