Kinder brauchen KörperkontaktDie Kraft des Kuschelns

kizz sprach mit der Diplom-Psychologin Fabienne Becker-Stoll über die Bedeutung von Berührungen in der Familie

Die Kraft des Kuschelns
Das Fehlen von Körperkontakt verursacht bei Kindern Stress © Evenij Yulkin - Stocksy

Kinder suchen in unzähligen Situationen Körperkontakt. Wie wichtig ist das Familienkuscheln?
Überlebenswichtig – im wahrsten Sinne des Wortes.

Warum?
Als die Menschen noch Jäger und Sammler waren und durch die Savanne liefen, bedeutete für Babys und Kleinkinder der Körperkontakt zu den Erwachsenen Sicherheit – wurde er unterbrochen und der Säugling lag allein vor der Höhle, drohte ihm der Tod. Deshalb verursacht fehlender Körperkontakt bei Kindern enormen Stress.

Das gilt auch heute noch, obwohl keine wilden Tiere mehr vor der Höhle lauern?
Unbedingt. Wir tragen heute in modernen westlichen Gesellschaften die Kinder nicht mehr ununterbrochen am Körper, das ist auch in Ordnung. Aber Körperkontakt und liebevolle Zuwendung brauchen Kinder trotzdem, und zwar ab der Geburt. Trennungsangst, die durch fehlenden Körper- oder Sichtkontakt zu Bindungspersonen ausgelöst werden kann, aktiviert bei Babys und Kleinkindern einen Bereich im Gehirn, in dem bei Erwachsenen das Schmerzzentrum liegt. In dieser panikartigen Situation überfluten die Stresshormone Adrenalin und Kortisol das kindliche Gehirn. Passiert das wiederholt und über längere Zeit, werden nachweislich Gehirnareale in ihrer Entwicklung geschädigt.

Und dagegen kann Kuscheln helfen?
Ja, das Kind braucht jetzt möglichst schnell Körperkontakt, in solchen Situationen helfen keine Worte mehr. Bekommt es körperlichen Trost und Zuwendung, nehmen zum Beispiel die Mutter oder der Vater das Kind liebevoll in den Arm, dann schüttet sein Körper das einzige hormonelle Gegengift aus: Oxytocin, auch bekannt als Kuschel- und Bindungshormon. Das funktioniert nur durch liebevollen Hautkontakt zu einer vertrauten Person – übrigens auch bei Erwachsenen.

Wie verändern sich die Kuschelbedürfnisse, wenn die Kinder älter werden?
Ältere Kinder brauchen den Körperkontakt nicht mehr so oft wie ein Säugling, dessen sogenanntes Bindungsverhaltenssystem bei jedem Unwohlsein, also alle paar Minuten, aktiviert wird. Aber auch ältere Kinder wollen noch kuscheln – übrigens auch in Situationen, in denen es ihnen gut geht, einfach weil das wohlig ist und zur Entspannung beiträgt. Auch Körperkontakt im Schlaf beruhigt und besänftigt oft. Kinder holen sich diesen von den Eltern immer wieder selbst, auch noch in der Pubertät, vor allem, wenn sie vertrauensvolle Beziehungen zu den Eltern haben. Auch der Körperkontakt zwischen Geschwistern und Freunden kann wichtig sein. Wie sich die Bedürfnisse verändern, unterschiedet sich aber je nach Kind und Phase sehr: Manche holen sich den Körperkontakt nur ganz kurz, manche sind bedürftiger als andere. Und in der Pubertät ähnelt der Körperkontakt der Eltern zu ihren Kindern manchmal der Kunst, einen Kaktus zu umarmen.

Körperkontakt kann aber auch kleinere Kinder schon nerven: Nicht jeder möchte von allen Tanten Begrüßungsküsschen bekommen ...
Bloß nicht, das kann wirklich übergriffig sein. Größere Kinder sollten wissen, wie man jemanden respektvoll und freundlich begrüßt und ihm die Hand gibt. Aber Zärtlichkeiten dürfen Kinder nicht aufgedrängt werden. Dann müssen sich die Eltern schützend vor das Kind stellen und das klären: Die Tante hat ein Recht darauf, freundlich begrüßt zu werden – mehr nicht. Eltern können auch drei- oder vierjährige Kinder schon darin bestärken zu sagen: „Mein Körper gehört mir.“ Kinder müssen keinen Körperkontakt über sich ergehen lassen, den sie nicht wollen und der nicht zur empfundenen Nähe passt.

Und wie können Eltern selbst Grenzziehungen der Kinder erkennen und respektieren?
Ich empfehle Eltern, auf die Signale zu achten, die von den Kindern selbst kommen, sie aufmerksam wahrzunehmen. Es ist okay, mit zunehmendem Alter der Kinder immer vorsichtiger zu werden – aber Eltern sollten auch darauf achten, den Körperkontakt nicht aus Unsicherheit ganz einzustellen. Gerade in Phasen von Trauer oder Stress brauchen auch größere Kinder oft noch körperliche Zuwendung. Eltern sollten sie anbieten und einladend sein, es aber auch akzeptieren, wenn das Kind in einer Situation zum Beispiel nicht umarmt werden möchte.

Die „Kuschel-Kulturen“ unterscheiden sich auch von Familie zu Familie stark …
Ja, und es ist völlig in Ordnung, dass es da verschiedene Formen gibt – wenn man sich dem Kind nur liebevoll und feinfühlig zuwendet. Vielleicht mag es der Vater gar nicht, wenn die Kinder mit im gemeinsamen Bett schlafen, und die Mutter hat damit kein Problem. Dann muss man eben eine Lösung finden, die für alle gut ist. Und der Vater kann trotzdem ein liebevoller und unterstützender Papa sein. Ich habe als Erwachsener die Verantwortung für das Gelingen der Beziehung – aber ich muss keine Dinge mit dem Kind machen, die ich nicht mag. Wenn mir das Kind auf dem Schoß gerade zu schwer oder zu warm ist, dann schaffe ich auf andere Weise Nähe. Vielleicht legt sich das Kind in sein Bettchen und ich setze mich daneben und lese ihm etwas vor. Wichtig ist nur, dass ich das Kind mit seinen Bedürfnissen nicht harsch abweise oder beschäme und ihm eine akzeptable Alternative biete. Meine Erfahrung ist: Wenn wir die Bedürfnisse der Kinder ernst nehmen und feinfühlig darauf reagieren, haben wir viel weniger Stress. Das lohnt sich allemal. Und manchmal bringt eine Umarmung mehr als alles Brüllen und Schimpfen. Körperkontakt kann eine wunderbare Möglichkeit sein, Stress zu regulieren, für Kinder und Eltern. Das tut einfach allen gut.   

kizz Info

Spiele mit Körperkontakt

Rückenmalen: Das Kind liegt auf dem Bauch und darf erraten, was die Eltern mit den Fingern auf seinen Rücken malen. Bei kleineren Kindern einfache Formen, bei größeren auch Zahlen, Buchstaben ...

Runter vom Teppich! Manchmal mögen Kinder Körperkontakt in Form von Rangeln und Raufen. Bei diesem Spiel begeben sich zwei Spielpartner im Vierfüßlerstand auf einen Teppich und versuchen, sich gegenseitig runterzuschieben.

Pizza backen: Ein Kind liegt auf dem Bauch, Vater, Mutter oder ein anderes Kind knien daneben und „backen“ auf seinem Rücken eine Pizza: Erst den Teig kneten, dann ausrollen, Tomatensoße verteilen, Oliven in den Teig drücken, mit den Fingern Gewürze darüber streuen usw. Dann wird die Pizza vorsichtig in den Ofen geschoben, gebacken und wieder herausgezogen. Und dann ist Anknabbern erlaubt!  

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