Normale Kindheit war gestern: Alle paar Jahre taucht eine neue Modediagnose auf, die kindliche Verhaltensauffälligkeiten erklären soll. Inzwischen hat denn auch die Hochsensibilität den Hype um die Hochbegabung abgelöst. Aber ist das Thema wirklich so neu? Schließlich gab es schon immer Menschen, die nachdenklicher und mitfühlender waren als andere und deutlich empfindlicher auf bestimmte Sinnesreize reagierten. Nach Expertenmeinung sollen immerhin 15 bis 20 Prozent aller Menschen hochsensible Persönlichkeitsmerkmale aufweisen. Doch erst seit die amerikanische Psychologin Elaine N. Aron 1996 ihr viel beachtetes Buch The Highly Sensitive Person und ein Jahr später den Elternratgeber The Highly Sensitive Child veröffentlichte, wurde das Thema Hochsensibilität in der Forschung und Öffentlichkeit vermehrt wahrgenommen und diskutiert. Bis heute folgten zahlreiche Lebensund Erziehungsratgeber anderer Autoren zum Thema. Ein weiterer Grund der höheren Aufmerksamkeit für hochsensible Menschen: Mit der permanenten Reizüberflutung in der modernen Welt kommen sie weniger gut klar – und fallen deshalb mehr auf.
Wahre Vielfühler ohne Abwehrfilter
Die Neusser Diplom-Psychologin und Beraterin Stefanie Kirschbaum kann sich nach wie vor nicht so recht mit dem Begriff der Hochsensibilität anfreunden. „Hochsensibel setzen viele mit überempfindlich gleich – und überempfindliche Menschen gelten als eher schwierig. Das Wort ‚hochsensitiv‘ trifft es für mich besser, denn es beschreibt die Fähigkeit zur starken Sinneswahrnehmung.“ Zwei Kinderbücher hat Kirschbaum zum Thema geschrieben, um Eltern zu informieren und Kindern zu vermitteln, dass es noch andere Mädchen oder Jungen gibt, die so wie sie denken und fühlen. Darin bietet die Titelheldin Betty empfindsamen Kindern jede Menge Identifikationspotenzial: Sie ist genervt vom lärmenden kleinen Bruder, hat beim Klassenausflug Angst vor der Karussellfahrt, ihr Pullover kratzt sie am Hals und den Geruch von Reinigungsmitteln kann sie überhaupt nicht leiden. „Hochsensible Kinder haben besonders ausgeprägte Wahrnehmungsfähigkeiten. Sie sehen, hören, riechen und fühlen stärker und intensiver“, erklärt Stefanie Kirschbaum. Die zweifache Mutter spricht aus Erfahrung. Sie und eine ihrer Töchter sind beide hochsensitiv. Dabei sind Hochsensible aber weder Heulsusen, Angsthasen oder Mimosen. Sie halten auch nicht weniger aus als andere Menschen. Ihr Nervensystem reagiert nur überaus empfindlich und nimmt auch noch so kleine Reize, Stimulationen und Informationen auf. Denn Hochsensible verfügen über deutlich mehr Neurotransmitter als der Durchschnitt, also Botenstoffe, die die Erregung von Nervenzellen an eine andere Zelle übermitteln. Sie sind wahre Vielfühler. Wo das Nervensystem anderer Menschen einen Filter hat, um nur die wirklich relevanten Informationen zu verarbeiten, scheint es den bei Hochsensiblen nicht zu geben. Kein Wunder, dass gerade bei Kindern bald eine Grenze erreicht und das Hirn überfordert ist: Schnell kann die Stimmung eines an sich sanftmütigen Wesens in Wut umschlagen. Ebenso typisch wie aggressives Verhalten sind auch inneres Abschalten und Sich-Zurückziehen. Für das Umfeld erscheinen die heftigen und plötzlichen Reaktionen dann völlig überzogen.
Viele Ärzte und Berater tun sich schwer
Es sind gerade solche Schattenseiten der Hochsensibilität, die besorgte Mütter und Väter den Kinderarzt oder Psychologen aufsuchen lassen. Sie wundern sich, warum ihr Kind mit großem Ekel auf bestimmte Lebensmittel reagiert oder wie heftig es durch flackernde Lichter, laute Geräusche oder starke Gerüche mitgenommen wird. Zudem wirken viele hochsensible Kinder sehr schüchtern und introvertiert. Das Zusammensein mit anderen Kindern strengt sie oft so sehr an, dass sie Gruppenspiele lieber aus der Ferne beobachten oder sich gerne und ausgiebig allein beschäftigen. Trotz der Bekanntheit von Hochsensibilität sind immer noch viele Ärzte oder Erziehungsberater wenig erfahren im Umgang mit den Eigenheiten der Kinder. „Es gibt kein Diagnoseverfahren für Hochsensibilität. Deshalb schließt man erst einmal mögliche andere Ursachen für die hohe Reizempfindlichkeit aus, um eventuelle Krankheiten aufzuspüren“, sagt Dr. Michael Jack, Präsident des Informations- und Forschungsverbundes Hochsensibilität e.V.. Findet man keinen anderen Grund, empfiehlt er verunsicherten Eltern, sich erst einmal auf den Begriff der Hochsensibilität einzulassen und zu fragen: „Verstehe ich mein Kind und seine Reaktionen besser, wenn ich davon ausgehe, dass es hochsensibel ist?“
Schnell überreizt zu sein und heftig darauf zu reagieren, das führt nicht selten im privaten Umfeld oder in der Kita von hochsensiblen Kindern zu Konflikten und Problemen. Wie sollen Eltern darauf reagieren, ohne ihr Kind mit dem Etikett der Hochsensibilität als „anders“ oder gar „besonders“ zu versehen? „Sprechen Sie besser über konkrete Bedürfnisse oder kindliche Empfindlichkeiten, zum Beispiel ob Ihr Kind sehr lärmempfindlich ist oder ein starkes Ruhebedürfnis hat“, empfiehlt Michael Jack. Das hilft Erzieher Innen, ein Kind besser zu verstehen und einschätzen zu können. Genauso wichtig ist es, nicht ständig Probleme anzusprechen oder seine Schwächen zu betonen, sondern das Kind dafür zu loben, wie kreativ oder einfühlsam es ist. „So vermitteln Sie ihm Wertschätzung und Akzeptanz, die das Selbstbewusstsein stärken“, betont Psychologin Stefanie Kirschbaum.
Zugegeben: Das Leben mit hochsensiblen Kindern ist nicht immer einfach. Denn weil sie empfindlicher auf vieles reagieren, quengeln sie auch mehr als andere, sind schneller erschöpft und dadurch weinerlich oder wütend. Rituale und Regeln im Alltag sind da eine hilfreiche Strategie, denn feste Strukturen geben den Kindern Sicherheit und unterstützen sie dabei, eine für sie chaotische Welt zu ordnen. Stefanie Kirschbaum rät Eltern, dem Kind genug Zeit und Platz für Ruhepausen einzuräumen. „Der Kita- oder Schulalltag mit vielen anderen Kindern und Eindrücken ist für ein hochsensibles Kind ziemlich anstrengend.“ Der Nachmittag sollte also nicht auch noch mit Freizeitaktivitäten verplant sein. Das heißt aber nicht, die Kinder grundsätzlich in Watte zu packen. „Besser ist es, gemeinsam mit dem Kind Strategien zu entwickeln, um es fit und stark fürs Leben zu machen“, sagt Kirschbaum. Es gibt kein Patentrezept dafür, was genau hochsensible Kinder brauchen oder wovor man sie schützen muss. Doch Eltern finden schon mit der Zeit heraus, was ihrem Kind guttut und was nicht. Genauso wie alle anderen Mütter und Väter auch.
kizz Tipp
Bücher
- Für Kinder und ihre Eltern Stefanie Kirschbaum: Wie Betty das Wut-Gewitter bändigt, Festland Verlag 2015, € 17,50
- Für Eltern und andere Wegbegleiter von hochsensiblen Kindern Britta Karres: Komm raus, ich seh dich! Von Glück, Selbstwirksamkeit und Wachsen hochsensibler und hochbegabter Kinder, Festland Verlag 2016, € 21,50
- Das Standardwerk zum Thema Hochsensibilität Elaine N. Aron: Das hochsensible Kind. Wie Sie auf die besonderen Schwächen und Bedürfnisse Ihres Kindes eingehen, mvg Verlag 2008, € 19,90
kizz Webtipp
- Informations- und Forschungsverbund Hochsensibilität: hochsensibel.org
- Private Austauschplattform für Eltern hochsensibler Kinder: meinhochsensibleskind.de