Mathematik ist omnipräsent, auf der Armbanduhr, an der Supermarktkasse, auf dem Fußballplatz, überall sind Zahlen und geometrische Formen zu finden. Kein Wunder also, dass sich auch schon kleine Kinder für Mathematik interessieren. So konnten Forscher zeigen, dass schon Säuglinge Mengen unterscheiden können. In Experimenten wurden ihnen Bilder mit Gegenständen in unterschiedlicher Anzahl gezeigt. Blieb die Menge gleich, zeigten sie kaum Interesse. Veränderte sich dagegen die Anzahl, stellten sie sofort das Schnullern ein. „Wir besitzen einen natürlichen Zahlensinn. Besonders Kleinkinder sind leicht für die Welt der Mathematik zu begeistern“, bestätigt Mandy Fuchs, Mathematikdidaktikerin und Autorin des Buches Alle Kinder sind Matheforscher (Kallmeyer 2014). Schon lange vor dem Beginn des Matheunterrichts in der Schule erkunden sie Zahlen, Formen und Muster.
Die eigene Neugier reicht aus
Ein Beispiel aus meinem eigenen Alltag: Mein fast dreijähriger Sohn zählt mit großer Leidenschaft Dinge ab. Die Reihenfolge der Zahlen stimmt nicht immer, auch eine korrekte Zuordnung gelingt noch nicht. Aber das Abzählen der Kinder im Morgenkreis oder vor dem Hinausgehen hinterließ bei ihm offenbar einen bleibenden Eindruck. Auch die Grundprinzipien von „viel“ und „wenig“ hat er bereits verinnerlicht, vor allem bezogen auf Eis und Kekse. Lerngrundlage waren einige Sommertage mit Papa während der kitafreien Zeit. Dazu musste ich seinen Forscherdrang nicht erst wecken, seine kindliche Neugier genügte völlig. Diesem Grundsatz sollte auch die vorschulische Mathematik folgen, findet Mandy Fuchs: „Es geht nicht darum, Kindern schon vor dem Schulstart die Grundlagen des Einmaleins beizubringen. Stattdessen sollten wir sie bei der Entdeckung ihrer mathematischen Alltagswelt begleiten.“ Das Verständnis für Mengen und Formen, die Lust am Zählen – in der Wissenschaft spricht man von mathematischen Vorläuferfähigkeiten – entstehen mit entsprechenden pädagogischen Impulsen ganz von allein.
Eine gute Nachricht für alle Eltern und pädagogischen Fachkräfte in der Kita: Für die Vermittlung braucht es weder ein Mathestudium noch ausgeklügelte Lernmaterialien. „Mathematik ist sehr präsent im Kita-Alltag. Man muss nur das kindliche Interesse wecken und Möglichkeiten zum Entdecken schaffen“, erklärt Simone Dunekacke, Professorin für Frühkindliche Bildung an der Freien Universität Berlin. Ein klassisches Beispiel ist der Morgenkreis. Hier werden schon in der Krippe die anwesenden Kinder abgezählt. Später im Kindergarten kann dieses Ritual noch durch erstes Abziehen und Zuordnen von Mengen ergänzt werden: Wenn heute zwei Kinder fehlen, wie viele Stühle können wir wegnehmen? Auch die Mahlzeiten bieten viele Möglichkeiten zum Rechnen. Um den Tisch decken zu können, muss man die genaue Anzahl von Tellern, Gläsern und Besteck bestimmen. Süßigkeiten wie Gummibärchen oder Schokolinsen lassen sich in Reihen legen, deren Längen verglichen werden können – um die Leckereien gleich danach gerecht unter allen Kindern zu verteilen. In vielen Einrichtungen gibt es eigene Kochprojekte. Diese vermitteln nicht nur wichtige Erkenntnisse über gesunde Ernährung und Lebensmittel. Es geht nebenbei auch um Mathematik, zum Beispiel beim Einkaufen oder Abmessen und Abwiegen der Zutaten.
Auch zu Hause findet Mathe statt
Alltagssituationen gibt es also genug – übrigens nicht nur in der Kita, sondern auch im Familienalltag. Um ihr Potenzial zu nutzen, ist es wichtig, mit den Kindern ins Gespräch zu kommen und gemeinsam nach Antworten zu suchen. „Die Aufgabe der Erwachsenen ist es, den kindlichen Erkenntnisprozess zu begleiten und ihn durch offene Fragen weiter anzuregen. Die meisten Beobachtungen und auch Antworten auf die mathematischen Alltagsfragen kommen von den Kindern selbst“, erklärt Simone Dunekacke. Lerngelegenheiten lassen sich aber auch durch Spielangebote „erschaffen“. Die Kinder können Duplo-Steine oder Bauklötze zu hohen Türmen aufbauen, Spielzeugautos in Reihen aufstellen. Indem sie Wasser oder Sand in verschiedene Gefäße ein- und umfüllen, entdecken sie unterschiedliche Volumina. Auch Abzähl reime mit Nummern mögen Kinder gerne. Bei Gesellschaftsspielen wie Mensch ärgere Dich nicht würfeln die Spieler und setzen Figuren. Dafür müssen sie abzählen und Würfel bilder unterscheiden können. Über ihre Beobachtungen und Erkenntnisse aus dem Spiel lässt sich vortrefflich mit den Kindern sprechen. Bei Elternbloggern sind derzeit die sogenannten SumBlox beliebt, das sind Holzbausteine in Zahlenform. Je höher die Zahl, desto größer der Baustein. Mit ihnen kann auch gerechnet werden. Wenn man die Bausteine beispielsweise stapelt, entspricht die Summe der Höhe. Stimmen die Werte also überein, sind auch die Stapel gleich hoch. Das Konzept ist sehr offen: Einerseits spielen die Kinder und bauen mit Holzbausteinen, andererseits üben sie das Zählen und Rechnen.
Nicht alle mögen Zahlen
Wie stark Kinder auf solche Anregungen aus ihrer Umwelt reagieren, ist sehr unterschiedlich. Manche Kinder beginnen schon durch kleine Impulse zu zählen und zu rechnen, andere brauchen etwas Ermutigung und Anregung. Umso wichtiger sind offene Lernangebote, die es Kindern ermöglichen, eigene Ideen und Antworten zu mathematischen Phänomenen zu finden. Hierbei sollten die Interessen und Vorkenntnisse der Kinder im Mittelpunkt stehen. Verschulte Trainingsprogramme, bei denen die Kinder zu passiven Konsumenten werden und die auf Wiederholen und Einüben setzen, sind dagegen im Kindergartenalter fehl am Platz. Auch weil es keine klaren Erwartungen gibt, wie gut ein Kind vor dem Wechsel in die Grundschule zählen und rechnen können muss – weder vonseiten der Grundschullehrkräfte noch vonseiten der Kultusministerien. „Die Grundschulen legen eher Wert auf sozio-emotionale Fähigkeiten, Konzentration und Selbstregulation, als auf erste Erfahrungen im Kopfrechnen“, erklärt Mandy Fuchs. Während manche Schüler sich sicher im Zehner-Zahlenraum bewegen, haben andere Schwierigkeiten, einfache Würfelbilder zu erkennen; diese Unterschiede werden vielerorts über neue Unterrichtskonzepte wie Wochenpläne oder jahrgangsübergreifendes Lernen aufgefangen.
kizz Info
Vorläuferfähigkeiten
Wesentliche Voraussetzungen für mathematisches Denken entwickeln sich im Kleinkindalter. Dazu gehören
Mengenvorwissen:
Gegenstände nach Merkmalen sortieren, Muster legen, Mengen benennen und vergleichen, Anzahl erkennen
Zahlenvorwissen:
Zählen bis 10, Erkennen von Zahlen auf Münzen oder Würfeln, ein Verständnis von größer und kleiner, einfache Rechenoperationen mit Materialien
kizz Buchtipp
Einstein für Kleinkinder
Kleine Kinder sind nicht nur Mathe-Asse, sondern können auch etwas mit Quantenphysik und der Relativitätstheorie anfangen. Dieser Auffassung ist Chris Ferrie, Forscher an der University of Technology in Sydney. Deshalb entschloss sich der Vierfach-Papa, vier ungewöhnliche Bilderbücher für Kinder ab zwei Jahren zu schreiben, und zwar über Relativitätstheorie, Quantenphysik, Evolution und Raketenwissenschaften. Auf Deutsch sind die Bücher im Loewe-Verlag erschienen.