Die Kinder in der Kitagruppe spielen Vater, Mutter, Kind. Der kleine Jonas bestimmt, wer welche Rolle einnimmt. Leyla soll die Mutter sein, Nick und Lucie die Kinder. Aber Lucie hat keine Lust, sie möchte lieber Bilderbücher anschauen. Jonas hat dafür kein Verständnis. „Komm jetzt, alle machen mit!“, ruft er. Leyla und Nick ziehen Lucie am Ärmel. „Lo-oos!“ Aber Lucie bleibt standhaft. „Nein, ich möchte nicht!“
Es gibt Kinder, die den Ideen und Wünschen von anderen nicht so schnell nachgeben. Nein zu sagen fällt ihnen leicht, auch wenn sie damit in Kauf nehmen, sich eine Zeit lang alleine zu beschäftigen. Sich dem Gruppendruck nicht zu beugen, ist eine Fähigkeit, die später, in der Schule und während der Pubertät, einmal sehr wichtig sein kann, wenn Cliquen und Peergroups an Einfluss gewinnen. Wie unterstützen wir unsere Kinder darin, psychisch stark zu werden und ihre eigenen Grenzen, ihre Integrität in einer Gruppe zu wahren?
Ein Gespür für sich selbst entwickeln
Das wichtigste Rüstzeug, das Eltern ihren Kindern dafür mitgeben können, ist eine gute Bindungserfahrung, sagt die Entwicklungspsychologin und Direktorin des Staatsinstitutes für Frühpädagogik (IFP), Fabienne Becker- Stoll. „Das bedeutet, dass Eltern auf die Bedürfnisse, aber auch auf die Interessen ihres Babys oder Kleinkindes kompetent und feinfühlig eingehen.“ Dazu gehört etwa, dass man gleich reagiert, wenn das Kind anfängt zu weinen, und nicht erst kommt, wenn es brüllt. Aber auch, dass man dessen Forscherdrang nicht bremst, sondern es aufmerksam begleitet und dafür sorgt, dass nichts Schlimmes passiert. „Kinder, die diese Sicherheit erfahren haben, entwickeln ein gutes Gespür dafür, was sie brauchen und was nicht, und können das auch gut kommunizieren“, erläutert Becker-Stoll.
Wer später dem berühmten Bauchgefühl traut, der Intuition, die einen vor brenzligen Situationen warnt, hat in seiner Kindheit wahrscheinlich gelernt, seinen Körper und seine Gefühle gut wahrzunehmen. Den Grundstein dafür legen Mütter und Väter schon sehr früh, sagt die Prozessbegleiterin und familylab-Seminarleiterin Nicole Wilhelm. Zum Beispiel, „indem sie versuchen, die Empfindungen ihres Kindes zu benennen, ihm Worte dafür anbieten, wenn es selbst noch gar nicht sprechen kann und nur den Kopf schüttelt oder sich abwehrend verhält. Eltern können dann sagen: „Ich sehe, du willst das jetzt nicht.‘“ Der erste Schritt besteht nach Wilhelm darin „dass Kinder lernen, sich selbst wahrzunehmen. Der zweite, zu erfahren, dass ihre Gefühle ernst genommen werden. Wenn wir Erwachsenen die Gefühle ernst nehmen, dann kann das auch das Kind.“
So können Kinder Grenzen setzen
In der Kita treffen viele Kinder mit unterschiedlichen Persönlichkeiten und unterschiedlichem Entwicklungsstand aufeinander, die erst einmal lernen müssen, sich in eine Gruppe zu integrieren. Manchen gelingt das besser als anderen. Es gibt Kinder, die extrovertiert und temperamentvoll sind, und Kinder, die sich lieber erst einmal zurückhalten und abwarten. Manche fühlen sich in einer Gruppe pudelwohl, für andere bedeutet die ständige Reizüberflutung Stress. Ebenso spielt das Alter eine Rolle: Das kindliche Gehirn wächst noch, das Zentrum für die Impulskontrolle ist noch lange nicht ausgereift. Ein Zwei jähriger beginnt gerade zu begreifen: „Ich bin ich, das ist meins, und darüber darf ich bestimmen.“
Es liegt an den ErzieherInnen, bei ihrer Arbeit all diese unterschiedlichen Persönlichkeiten zu berücksichtigen und angemessen auf sie einzugehen. Grundsätzlich befördern partizipative Strukturen ein gutes Sozialverhalten, sagt Fabienne Becker-Stoll. Idealerweise gibt es in den Einrichtungen viel Freiraum für Selbst- und Mitbestimmung. „Fachkräfte und Kinder können gemeinsam aushandeln, was geht und was nicht, etwa Hauen, Spucken und Beißen.“ Hilfreich ist es auch, ein Zeichen zu vereinbaren, um eine Grenzüberschreitung zu signalisieren. In vielen Kindergärten lernen die Kinder „Stopp“ zu sagen und dabei die Hand auszustrecken, wenn ihnen jemand zu nahe kommt oder sie sich bedrängt fühlen, was beim Toben, Spielen oder Kämpfen oft genug passiert.
Diese Stoppsignale gelten für alle und müssen von allen respektiert werden – auch von den Erwachsenen. Das hört sich selbstverständlich an, aber die Realität sieht anders aus, sagt Becker- Stoll. Oft genug wird ein „Nein, will nicht!“ oder ein „Nein, das kann ich alleine!“ nicht ernst genommen. „Das Machtgefälle zwischen Erwachsenen und kleinen Kindern ist so immens, da passieren im Alltag ständig Grenzverletzungen, die nicht nötig sind.“ So würden noch immer Kinder dazu überredet oder sogar gezwungen, ihren Teller leer zu essen. Ein klarer Fall von Machtmissbrauch.
Kinder immer wieder miteinbeziehen
Auch das Wickeln ist oft ein heikles Thema, nicht selten wehren sich Kleinkinder mit Händen und Füßen dagegen. Anstatt die Kinder gegen ihren Willen zu wickeln, können Fachkräfte versuchen, sie in den Prozess miteinzubinden, rät Becker-Stoll. Wenn sie merken, dass eine Windel nass oder schmutzig ist, gehen sie auf das Kind zu und gewinnen seine Aufmerksamkeit: „Ich glaube, du brauchst eine frische Windel, ich würde dich gerne wickeln.“ Nach einer Weile bekommen die Kinder ein Gespür dafür, wann es Zeit ist, die Windel zu wechseln. „Solche Kinder werden auch früher sauber“, sagt Becker-Stoll.
Wie bei allen anderen Erziehungsthemen hängt auch der Umgang mit Grenzen vom Vorbild der Erwachsenen ab. Gehen diese liebevoll und respektvoll miteinander um und helfen sie den Kindern, gemeinsam gute Lösungen zu finden, dann ahmen die Kinder dieses Verhalten nach. Daher bringen Übungen oder Trainings zum Neinsagen in diesem Alter wenig, sagt Peter Döscher, Coach und Geschäftsführer des Instituts für Gewaltprävention, Selbstbehauptung und Konflikttraining (I-GSK). Der ehemalige Polizist trainiert mit Kindern, wie sie sich gegen körperliche Gewalt und Missbrauch schützen können. „Man kann mit Grundschulkindern das Neinsagen üben, etwa in Rollenspielen. Aber bei Kitakindern funktioniert das nur begrenzt. Wenn man kleine Kinder nachhaltig beeinflussen will, muss man mit dem Personal und den Eltern arbeiten“, sagt er.
Gerade Vätern und Müttern müsse man immer wieder bewusst machen, wie wichtig ihre Rolle sei. Er rät: Wenn Fachkräfte mitbekommen, dass Eltern sich selbst nicht gut regulieren können, ihre Kinder etwa oft anschreien oder grob anpacken, sollten sie das Gespräch mit diesen Eltern suchen und Hilfe anbieten. „Natürlich ohne erhobenen Zeigefinger, sondern als Erziehungspartner, der sieht, dass es eine belastende Situation gibt.“
Die Grenzen der Kinder respektieren
Kinder sollten also immer Nein sagen dürfen. Was nicht bedeutet, dass sie immer ihren Willen durchsetzen können oder jeder ihrer Wünsche erfüllt wird. Schließlich gehört es zum sozialen Miteinander, auch mal zurückzustecken und anderen den Vortritt zu lassen. Das lernen Kinder am besten, wenn die Erwachsenen gut für sich selbst sorgen und ihre Grenzen klar und deutlich kommunizieren. „Erwachsene, die selbst ihre eigenen Grenzen nicht spüren, können das auch bei Kindern nicht. Wer sich selbst nicht gut regulieren kann, kann auch Kinder nicht gut unterstützen“, sagt Fabienne Becker-Stoll.
Und was, wenn wir Eltern ein „Nein, ich will nicht!“ ignorieren und die Kinder zwingen, etwas gegen ihren Willen zu tun? Weil die Windel voll ist, die Haare riechen oder man es eilig hat? Dann sollten wir zumindest die Verantwortung für unser Handeln übernehmen. Wir können sagen: „Ich sehe, du willst das nicht, aber wir machen es trotzdem, weil ich pünktlich bei der Arbeit sein will/für deine Sauberkeit verantwortlich bin.“ Stattdessen denken viele Eltern, es sei hilfreich, die Kinder mit Argumenten zu überzeugen („Schau mal, dein Popo ist schon ganz rot, weil wir so lange mit dem Wickeln gewartet haben.“). Damit signalisiert man aber nur: So wie du fühlst, ist es verkehrt.
kizz Info
So machen Sie Kinder stark
- Kinder können sich das Essen selbst nehmen und entscheiden, was und wie viel sie essen.
- Kinder haben genügend Zeit, sich selbstständig anzuziehen.
- Kinder holen sich ihre Spielgeräte selbst.
- Kinder dürfen viel ausprobieren und die Erwachsenen trauen ihnen etwas zu.
- Erwachsene fragen Kinder, ob sie Hilfe brauchen, und akzeptieren es, wenn diese Nein sagen.
- Kinder dürfen sich beschweren, wenn Erwachsene gegen die Regeln verstoßen und sie zum Beispiel anschreien.