Sich um unseren Nachwuchs Sorgen zu machen, fällt nicht schwer. Kinderärzte, Psychologen und Pädagogen schlagen in der Presse Alarm und verbreiten ein besorgniserregendes Bild: Kinder von heute können keine Purzelbäume mehr machen, sich schlecht konzentrieren, nicht gut lesen und schreiben und auch ihre sozialen Kompetenzen lassen zu wünschen übrig. Apokalyptische Zukunftsprognosen in Sachen Pädagogik verkaufen sich dieser Tage gut. Begünstigt durch den elterlichen Drang, den Entwicklungsstand des eigenen Kindes ständig mit dem anderer zu vergleichen, wächst damit die Unsicherheit ins Unermessliche. Das spürt auch Kinderärztin Karella Easwaran in ihrer Kölner Praxis. „Ich erlebe eine sehr große Unsicherheit, oft ausgelöst durch das Umfeld. Wenn ein Kind nicht gerne liest, etwas tollpatschig oder schüchtern ist, raten Nachbarn, Großeltern oder auch Pädagogen schnell zu einer Therapie“, sagt sie. Ob diese sinnvoll oder nicht ist, entscheiden in Deutschland die Mediziner. Sie verschreiben Logopädie, Ergo- und Physiotherapie per Rezept. Selten auf reinen Wunsch der Eltern oder Fachkräfte, sondern weil die „Probleme“ zum Beispiel während der U-Untersuchungen auffallen. Aber längst nicht alles, was nach einer Entwicklungsverzögerung aussieht, ist auch eine. Oftmals handelt es sich nur um einen „normalen“ Teil der kindlichen Entwicklung, die mal schneller und mal langsamer verläuft, sagt Easwaran. Die Autorin von Das Geheimnis gesunder Kinder: Was Eltern tun und lassen können (KiWi 2018) rät deshalb zu mehr Gelassenheit. In vielen Fällen seien die Lösungen einfach und eine Therapie nicht notwendig. Wenn zum Beispiel ein Zweijähriger das altersübliche Sprachniveau noch nicht erreicht hat, sollten seine Eltern lieber viel mit ihm sprechen und ihm vorlesen. Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass ein ansonsten gesundes Kind schon in diesem Alter von Logopädie profitiert. Ähnliches gilt auch für die motorische Entwicklung: Vielfältige und regelmäßige Bewegungsangebote im Alltag sind viel sinnvoller als Physiotherapie. „Therapien sind etwas für kranke Kinder und sollten nicht der Optimierung dienen“, stellt Easwaran klar. Immerhin seien Physio- oder Ergotherapie keine Pillen, die Krankheiten schnell heilen, sondern nur mögliche Wege, um bestimmte Dinge wie das Laufen oder Greifen zu verbessern. Diese Unterstützung ist vor allem dann wichtig, wenn eine tiefgreifende Entwicklungsverzögerung vorliegt. Für ein Kind mit einer angeborenen körperlichen, geistigen oder kognitiven Beeinträchtigung, wie dem Down-Syndrom oder einer halbseitigen Lähmung, kann eine frühe Förderung durch Therapeuten große Fortschritte bringen. „In solchen Fällen werden wir als Kinderärzte ohnehin schnell aktiv und verordnen sofort therapeutische Unterstützung“, erklärt Easwaran. In allen anderen Fällen dürfen Mütter und Väter getrost durchatmen und die Unvollkommenheiten und Besonderheiten des eigenen Kindes einfach akzeptieren.
Wie arbeitet eine Physiotherapeutin mit Kindern?
Frauke Mecher leitet eine Praxis für Physiotherapie in Braunschweig. Viele ihrer Patienten sind Säuglinge und Kleinkinder.
Die Physiotherapie für Kinder beschäftigt sich vor allem mit Problemen der motorischen Entwicklung. So haben viele meiner kleinen Patienten seit ihrer Geburt eine körperliche oder auch geistige Behinderung. Die Bandbreite reicht dabei von Lähmungen und Spastik über Fußfehlstellungen oder einen offenen Rücken bis hin zum Down-Syndrom. Diese Kinder bekommen oft von Geburt an therapeutische Unterstützung. Auch nach einem Unfall oder bei schweren Erkrankungen wie Krebs kommen Kinder zu uns in die Praxis. Nach Knochenbrüchen helfen wir Kindern, ihre Beweglichkeit wieder zu verbessern. Und nach einer schweren Tumorerkrankung helfen wir beim Muskelaufbau.
Eher selten haben wir mit motorischen Schwierigkeiten zu tun, die im Kindergartenalter urplötzlich auftreten. Ein Beispiel dafür wäre der sogenannte Hüftschnupfen. Das ist eine Entzündung des Hüftgelenks, bei der die Kinder plötzlich aufhören zu laufen. Ein Kind, das beim Laufenlernen länger braucht oder beim Klettern etwas tollpatschig ist, ist dagegen nur in Ausnahmefällen und nach Beurteilung des Kinderarztes ein Fall für die Therapie. Viel wichtiger ist es, allen Kindern ausreichend Bewegungserfahrungen zu ermöglichen – und zwar täglich: auf dem Spielplatz, im Wald, in der Stadt. Nach ähnlichem Prinzip arbeiten wir auch in der Therapie, zum Beispiel mit kleinen Kletterlandschaften oder dem Einsatz von Hüpfbällen. Natürlich sind das nur Impulse. Mindestens genauso wichtig ist die Mitarbeit der Eltern. Auch sie müssen die Übungen machen und Lust an der Bewegung vermitteln. Und genau das ist nicht schwer: Kinder sollten so oft wie möglich selbst laufen und nicht im Wagen geschoben werden. Sinnvoll finde ich auch Kinderturnen. Hier können die Kinder balancieren, toben und klettern. Das hat viele positive Effekte auf die motorische Entwicklung und die Körperwahrnehmung. Und wenn sich Eltern trotzdem noch Sorgen machen, rate ich, genau auf das Kind zu schauen. Macht es regelmäßig Fortschritte? Braucht es einfach nur etwas länger? Dann besteht in der Regel kein Grund zur Sorge.
Welche Kinder bekommen Ergotherapie?
Wolfgang Scheid ist Vorsitzender des Fachausschusses Pädiatrie beim Deutschen Verband der Ergotherapeuten. Die meisten Patienten in seinen drei Praxen sind Kinder.
Zentral für die Ergotherapie ist der Alltagsbezug. Wir versuchen Familien – Kindern und Eltern gleichermaßen – den Leidensdruck im Alltag zu nehmen. Was diesen Druck auslöst, ist ganz unterschiedlich. Zum Beispiel arbeiten wir häufig mit Kindern, die durch Krankheiten oder Behinderungen Unterstützung bei feinmotorischen Bewegungsabläufen brauchen, etwa beim Stifthalten oder Ausschneiden. Auch Schwierigkeiten mit der Aufmerksamkeit oder Wahrnehmung sind ein häufiges Thema für Ergotherapeuten. Gerade wenn Kinder langsam ins Schulalter kommen, schauen die pädagogischen Fachkräfte und Eltern genauer hin. Plötzlich greift das Leistungssystem und die Sorgen wachsen, zum Beispiel beim Thema Konzentration oder bei den sozialen Kompetenzen, etwa der Fähigkeit, mit anderen in der Kindergartengruppe zu interagieren. Als Therapeuten schauen wir auf die Lebenswelt des Kindes in Kita und Familie und suchen nach Wegen, die Teilhabe am Alltag zu verbessern. Manchmal sind es einfache Tipps. Wir finden eine andere Variante, die Schuhe zu binden, oder zeigen den Eltern, wie man mit Fadenspielen oder durch das gemeinsame Zubereiten von Mahlzeiten spielerisch die Feinmotorik und die Konzentrationsfähigkeit des Kindes verbessern kann. Manchmal ist es auch der andere Blick auf Verhaltensweisen der Kinder. Wir hatten zum Beispiel gerade erst einen kleinen Jungen in der Praxis, der beim Morgenkreis in der Kita immer sehr unruhig war. Es stellte sich heraus, dass er Probleme beim Hörverstehen hatte. Wir haben dem Umfeld geraten, in kürzeren Sätzen zu sprechen und eine Untersuchung beim Ohrenarzt machen zu lassen. Ergotherapie muss längst nicht immer eine langfristige Therapie bedeuten. Manchmal sind nur wenige Einheiten und Impulse nötig, um den Alltag aller Beteiligten zu erleichtern. Oft erlebe ich, dass hinter den vermeintlichen Problemen gar keine Entwicklungsverzögerungen oder motorischen Störungen stecken. Es gibt einfach Kinder, die spät laufen oder mit vier Jahren nicht sauber malen. Das gehört zur normalen Entwicklungsspanne. Leider geht vielen Eltern das Gefühl dafür verloren – auch durch den gesellschaftlichen (Leistungs-) Druck, der selbst vor Kindern nicht haltmacht. Hier kann Ergotherapie durch Beratungsangebote helfen, Unsicherheiten zu überwinden.
Was macht die Logopädie?
Die Logopädin Heike Dzubiel ist spezialisiert auf die kindliche Sprache, außerdem unterrichtet sie an der Hamburger Berufsfachschule für Logopädie.
Die Logopädie beschäftigt sich bei Kindern im Kindergarten- und Grundschulalter vor allem mit Sprach- und Sprechstörungen. Es geht darum, Wörter richtig auszusprechen, den Wortschatz zu vergrößern, die Grammatikentwicklung anzustoßen oder Stottern und Lispeln zu verbessern. In der kindlichen Sprachentwicklung gibt es drei entscheidende Meilensteine: das erste Wort mit ungefähr einem Jahr, einen Wortschatz von 50 Wörtern mit 24 Monaten und die Bildung einfacher Hauptsätze mit etwa zweieinhalb bis drei Jahren. Haben Kinder dabei größere Schwierigkeiten, ist es sinnvoll, mit dem Kinderarzt über Logopädie zu sprechen. Ansonsten besteht die Gefahr, dass die Lücken bis zum Schuleintritt nur schwer geschlossen werden können. Viele Eltern gehen auch auf Rat der pädagogischen Fachkräfte zum Arzt oder kommen durch eine Überweisung nach einer U-Untersuchung zu uns. Das gilt übrigens nicht nur für Probleme in der Sprachentwicklung, sondern auch für das Stottern oder Lispeln.
Für eine erfolgreiche Therapie spielt die Motivation des Kindes eine große Rolle. Dies betrifft sowohl die Übungen mit älteren Kindern als auch die Arbeit mit kleinen, die eher spielerisch und indirekt erfolgt. Weil die Therapiezeit in der Regel auf 45 Minuten pro Woche beschränkt ist, ist auch die Mitarbeit der Eltern immens wichtig. Deshalb zeigen wir auch diesen die Übungen und und animieren zum Sprechen und Vorlesen. Das ist ein genereller Rat an alle Eltern: Vorzulesen und miteinander zu sprechen ist immens wichtig für die kindliche Sprachentwicklung. Dabei kann man die Führung ruhig dem Kind überlassen und sich seinen Interessen anpassen. So ist die Lust am Lesen und am Austausch noch größer. Gleiches gilt auch für das Verbessern: Wenn ein Kind ein Wort falsch ausspricht oder einen Grammatikfehler macht, sollte man ihm immer signalisieren, dass man es verstanden hat. Erst dann kann man das Gesagte beiläufig korrekt wiederholen, zum Beispiel in einer Frage.