Kinder machen uns ja später für alles verantwortlich, was bei ihnen biografisch nicht rund läuft: Warum hast du mich sportlich nicht mehr gefördert? Warum hast du mir so viel Druck beim Fußball gemacht? Warum hast du mein musikalisches Talent nicht erkannt? Warum musste ich jeden Tag Geige üben? Warum durfte ich mit 15 nicht ins Ausland? Warum musste ich bei diesem Schüleraustausch nach Frankreich mitfahren? Für den Fall, dass Ihr Bedarf an Kalendersprüchen für heute noch nicht gedeckt ist, hätte ich hier einen: Wie man’s macht, macht man’s verkehrt.
Das Gute ist: Ich werde die Vorwürfe meiner Kinder später nicht hören. Ich befinde mich nämlich auf halbem Weg in Richtung Altersschwerhörigkeit. Wenn sich meine Kinder beim Abendbrottisch kichernd etwas zuflüstern, muss ich dreimal nachfragen, bevor ich den Witz kapiere. Neulich habe ich mich dabei ertappt, den Fernseher lauter stellen zu wollen. Haben die beim Tatort schon immer so genuschelt? Das möchte ich an dieser Stelle wirklich mal anprangern. Und wo wir schon bei Schuldzuweisungen sind: An meinen Genen oder meinem ehemals grandiosen Gehör kann es nicht liegen, dass die Welt zunehmend leiser wird. Ich habe eine andere Vermutung: Die Kinder haben meine Innenohr-Härchen auf dem Gewissen! (Okay, ich gebe zu, vielleicht auch Die Ärzte, die ich in meiner Jugend ein kleines bisschen über Zimmerlautstärke gehört habe.)
Das letzte Mal haben meine Ohren nach der Milleniumsparty 2000 gefiept. Auf Rockkonzerten war ich lange nicht mehr. Wer denkt, mein Leben als Mama sei deshalb ruhig und beschaulich, irrt gewaltig. In einer großen Familie leben heißt: akustische Reize 24/7. Nicht selten total übersteuert. Dass alle durcheinanderrufen, immer mindestens einer kreischt oder heult – völlig normal. Und nicht zu vergessen: die permanente Soundspur analoger und digitaler Spielgeräte. „Mach doch mal den Ton LEISER – bitte!“
Ich erinnere mich noch sehr genau, wie ich die Tür zu diesem neuen Leben das erste Mal aufstieß. Buchstäblich. Ich war hochschwanger, als mich eine Freundin aus dem Geburtsvorbereitungskurs, die ihr Baby schon bekommen hatte, bat, ein Rezept beim Kinderarzt für sie abzuholen. Na klar!, sagte ich und schob meine dicke Kugel die Stufen zur Praxis hinauf. Als ich eintrat, fiel ich fast hinten rüber. Eine Welle des Lärms überrollte mich. Unbekannte Frequenzen waren das, die aus Dutzenden kranken Kleinkinderkehlen kamen. Und diese kleinen Wesen mit ihren mächtigen Stimmbändern waren überall – auf den Schößen ihrer Eltern, auf dem Boden, im Flur, unter den Möbeln. Ich dachte, ich drehe augenblicklich durch. Wie kann ein Mensch bei diesem Geräuschpegel denken, fühlen, leben, arbeiten? (An dieser Stelle noch mal meine ausdrückliche Hochachtung an alle ErzieherInnen!) Ich brauchte damals den halben Nachmittag, ausgestreckt auf der Couch, um mich von der Wucht der Schallwellen zu erholen.
Neulich sprach ich mit einer Freundin über lange Autofahrten mit Kindern. Ihre sind 1, 7 und 10. Diese Art des Reisens sei so schön und erholsam, schwärmte sie. Die ganze Familie höre dann endlich mal Musik. Jeder dürfe sich reihum einen Titel von Spotify wünschen. „Zu Hause geht das nicht, da ist es immer viel zu laut.“ Ich wusste genau, was sie meint.