Ob auf dem Spielplatz oder zu Besuch bei anderen Eltern: Wenn ich mit Lara irgendwo neu ankomme, klammert sie sich noch an mein Bein, wenn die anderen längst mit dem Spielen begonnen haben“, berichtet Nina Sondermann. Die Berliner Mutter charakterisiert ihre vierjährige Tochter als auffällig schüchtern. „Es hat während der Eingewöhnung in der Kita auch länger gedauert, bis Lara mit der Fachkraft gesprochen hat“, erinnert sich die 32-jährige Sozialarbeiterin. Manche Eltern beunruhigt es, wenn ihr Kind sich so stark zurückhält. Sie drängen ihren Nachwuchs, auf die selten zu Besuch kommende Tante zuzugehen oder schieben die Tochter im Park entschlossen zu den anderen spielenden Kindern. „Trau dich!“ ist eine in solchen Situationen häufig geäußerte Aufforderung. Aber sie bringt wenig, weiß Jens Asendorpf, emeritierter Professor für Persönlichkeitspsychologie an der Berliner Humboldt-Universität. „Manche Kinder brauchen eben mehr Zeit.“
Das gilt zumindest für diejenigen, die von Natur aus schüchtern sind. Psychologe Asendorpf hat viele Jahre über das Thema geforscht und die sogenannte Zwei-Faktoren-Theorie zu den Ursachen von Schüchternheit aufgestellt. Die Zurückhaltung kann demnach zum einen auf angeborenen Temperamentsmerkmalen beruhen. „Dann bleibt sie wahrscheinlich ein Leben lang erhalten“, sagt der Wissenschaftler. Erkennbar wird dies etwa ab dem Alter von 18 Monaten. Die frühe Fremdelphase der Babys hat also nichts damit zu tun. Kinder mit angeborener Schüchternheit sind sehr vorsichtig, sowohl im Umgang mit fremden Personen als auch mit neuen Dingen. Sie reagieren zum Beispiel auch zurückhaltend auf neues Spielzeug. „Im Grunde kann man da als Eltern nicht viel machen. Am besten gibt man den Kindern einfach die Zeit, die sie brauchen“, rät Asendorpf.
Aufdrehen in vertrauter Umgebung
Zurückhaltende Kinder fühlen sich in der Regel nicht unglücklich – auch wenn manche Eltern dies denken. Studien haben gezeigt, dass von Natur aus schüchterne Menschen länger für bestimmte Dinge des Lebens brauchen: Sie schließen ihre Ausbildung etwa ein Jahr später ab als draufgängerische Naturen, finden später einen Partner und bekommen auch später das erste Kind. In vertrauter Umgebung aber können auch schüchterne Kinder aufdrehen. Sie toben zu Hause durch die Wohnung oder kichern mit Freundinnen und Freunden in der vertrauten Kitagruppe.
Meist sind es die Eltern, die Probleme mit dem zögerlichen Verhalten ihres Nachwuchses haben. In unserer westlichen Kultur wird Schüchternheit oft als Defizit betrachtet. Aber in China zum Beispiel war dies bis vor einigen Jahren anders: Dort galten stille Kinder als attraktiv und moralisch höherstehend. Im Zuge der wirtschaftlichen Öffnung und der Globalisierung hat in den vergangenen zwanzig Jahren allerdings auch dort die westliche Auffassung Einzug gehalten.
Eine Forschergruppe der Harvard- Universität hat in einem ab Anfang der 1980er-Jahre laufenden Langzeitexperiment Belege dafür gefunden, dass Schüchternheit angeboren ist. Unter Leitung von Carl Schwartz untersuchten die Wissenschaftler über mehrere Jahrzehnte hinweg die Gehirne besonders lebhafter sowie zurückhaltender Menschen von der Kindheit an. Sie fanden heraus, dass der Mandelkern des Gehirns bei schüchternen Menschen leichter reizbar ist und in neuen Situationen Stressreaktionen hervorruft. Und: Diese Reaktionen ließen sich – bei den einen mehr, bei den anderen weniger – noch im Erwachsenenalter nachweisen. Die angeborene Schüchternheit kann also während des Heranwachsens nachlassen oder auch bestehen bleiben. Das hängt unter anderem davon ab, wie die Familie und das persönliche Umfeld die Kinder prägen. Söhne oder Töchter sehr zurückhaltender Eltern werden tendenziell ihre Scheu eher behalten als Kinder aus weniger zurückhaltenden Familien.
Ursache soziale Ablehnung
Psychologe Asendorpf beschreibt in seiner Zwei-Faktoren-Theorie auch eine zweite Art der Schüchternheit, die sich erst als Folge häufiger sozialer Ablehnung entwickelt. Die Ursache kann bei den Eltern liegen, in der Kita oder später in der Schule. „Solche Erfahrungen können sich verfestigen“, sagt Asendorpf. Die Folge: Kinder meiden plötzlich den Kontakt mit anderen und ziehen sich zurück. Das wiederum kann in einen Teufelskreis münden. „Etwa ab der zweiten Klasse nehmen Kinder die Unsicherheit anderer war“, erklärt Asendorpf. „Das verstärkt mitunter die ablehnende Haltung der anderen gegenüber den zurückhaltenden Kindern.“
In solchen Fällen sollten Eltern zunächst den Grund der Ablehnung herausfinden. Es kann um das Klima in der Gruppe gehen, aber auch um etwaige eigene Zurückhaltung. Lassen Mutter und Vater ihr Kind vielleicht nicht an gemeinsamen Aktionen der Kitagruppe teilnehmen – aus welchem Grund auch immer? Sind sie überbesorgt und halten ihr Kind aus Angst vor Gefahren beim Spielen mit anderen oft zurück? Das kann dazu führen, dass das betroffene Kind zum Außenseiter wird. Eltern sollten unbedingt das Gespräch mit den Fachkräften suchen, um das Problem zu lösen. In seltenen Fällen kann es auch ratsam sein, die Gruppe oder die Einrichtung zu wechseln – insbesondere dann, wenn das Vertrauen in das pädagogische Personal gestört ist.
Introvertiert ist nicht schüchtern
In jedem Fall sollten Eltern genau hinschauen, bevor sie Schritte einleiten. Haben Sie wirklich ein schüchternes Kind? Oder ist der Nachwuchs einfach introvertiert? Bei Schüchternheit handelt es sich um eine leichte Form der Angst. Introvertierte Menschen sind dagegen einfach nicht so interessiert an anderen. Sie halten sich aber nicht generell in neuen Situationen zurück. Viele von ihnen können sich sehr konzentriert mit einer Sache beschäftigen. Manche introvertierten Mädchen oder Jungen etwa verbringen viel Zeit allein in der Bauecke der Kita. „Oft sind solche Kinder in der Gruppe beliebt, weil sie als kreativ gelten“, sagt Asendorpf.
Auch wenn Eltern sich sicher sind, dass ihr Nachwuchs schüchtern ist, können sie in klassische Verhaltensfallen tappen. Elterncoachin Doris Schüler warnt vor Ermahnungen wie „Sei nicht so schüchtern“ – womöglich noch in einer größeren Runde. Das löse Scham und Unsicherheit aus, schreibt die psychologische Beraterin in ihrem Buch Schüchterne Kinder stärken. Eltern sollten ihr Kind auch nicht zu einem Verhalten drängen, das diesem widerstrebt. Sie bringen es dann in den Zwiespalt, ob es den Erwartungen von Mutter und Vater oder seinen Gefühlen folgen soll. Dadurch kann es das Vertrauen in die eigenen Empfindungen verlieren. Auch Doris Schüler empfiehlt, den Kindern die nötige Zeit zu geben, neue Kontakte zu knüpfen, und sie dabei nicht zu drängen. Traut sich die Tochter oder der Sohn nicht, andere Kinder zum Geburtstag einzuladen, können die Eltern aber indirekt unterstützen. Indem sie zum Beispiel bei anderen Eltern vorfühlen oder das eigene Kind fragen, ob bestimmte Spielkameraden mal zu Besuch kommen dürfen. Auch hier sollten sie aber nicht drängen nach dem Motto: Lade doch Freunde zu deiner Feier ein! Für schüchterne Kinder ist es besonders wichtig, dass ihre Eltern nicht immerzu auf vermeintliche Defizite hinweisen. Anerkennung tut allen Kindern gut, schüchterne Mädchen und Jungen sind aber besonders darauf angewiesen. Das gilt gerade für Situationen, mit denen sie lange gerungen haben. Wenn der zurückhaltende Sohn nach anderthalb Jahren das erste Mal alleine Brötchen geholt hat, darf das ruhigen Gewissens gewürdigt werden. Das gilt übrigens auch für Fachkräfte: Auch sie können zurückhaltende Kinder in bestimmten Gruppensituationen anerkennen.
Als Eltern gelassen bleiben
Gerade weil sich schüchterne Kinder in der Kita oder der Öffentlichkeit oft selbst bremsen, brauchen sie Gelegenheiten zum Austoben. Zu Hause sollten Eltern es deshalb zulassen, dass ihr Kind etwas lauter ist. „Schüchterne Kinder verbieten sich das oft genug aus Angst davor anzuecken“, erklärt Doris Schüler. „Eltern unterstützen ihr Kind sehr, wenn es zu Hause geräuschvoll sein, toben und herumalbern darf.“
Für Eltern schüchterner Kinder gilt also zunächst: nicht die Nerven verlieren. Tritt die Zurückhaltung plötzlich auf, sollte man hellhörig werden und herausfinden, ob das Kind in seinem sozialen Umfeld häufig Ablehnung erlebt. Ist es aber von klein auf und besonders in neuen Situationen schüchtern, dann braucht es einfach Zeit. „Auf keinen Fall sollte man das pathologisieren und sein Kind deswegen von einer Therapie zur nächsten bringen“, warnt Psychologe Asendorpf.