Treten Bauchschmerzen im Kindesalter häufig auf?
Ja. Man kann sagen, dass Bauchschmerzen zu den häufigsten Beschwerden in der Kinderarztpraxis gehören. Gerade kleine Kinder empfinden Schmerzen häufig im Bauch. Bei älteren Schulkindern stehen Kopfschmerzen an erster Stelle, gefolgt von Bauchschmerzen. Die Krankheitsbilder, die hinter einem Bauchschmerz stecken können, sind sehr komplex und auch abhängig vom Alter des Kindes.
Welche Ursachen können in welcher Altersphase dahinterstecken?
Bei Säuglingen treten am häufigsten die typischen Drei-Monats-Koliken auf. Die Babys haben dann krampfartige Bauchschmerzen, ziehen immer wieder die Beinchen an, weinen, aber beruhigen sich auch wieder. Ihr Magen- Darm-System ist noch unreif und muss sich erst anpassen. Kitakinder haben eher mal eine Verstopfung oder es sind Emotionen, die einen Bauchschmerz auslösen. Bei älteren Kindern sind es vor allem Nahrungsmittelunverträglichkeiten oder eine Übersättigung mit Fruchtzucker oder Milchzucker, welche Probleme bereiten. Hinzu kommen außerdem die ganz normalen Magen-Darm-Infekte, die durch einen Virus ausgelöst werden.
Welche weiteren Erkrankungen gibt es?
Es gibt die klassischen Organerkrankungen, zum Beispiel die Blinddarmentzündung. Das Problem kann aber auch mal „bauchfern“ sein, zum Beispiel wenn hinter dem Bauchschmerz eines kleinen Jungen ein Leistenbruch steckt. Auch ein Harnwegsinfekt kann sich als Bauchschmerz darstellen, oder eine beginnende Lungenentzündung kann mit starkem Husten und Bauchschmerz verbunden sein. Ein großes Spektrum bilden außerdem die funktionellen Bauchschmerzen.
Was ist das?
Diese Bauchschmerzen haben keinen organischen Bezug, sondern sind Störungen in der Funktion des Magen-Darm-Trakts. Das bedeutet, dass dieser unregelmäßig arbeitet, was an sich normal ist. Weil bei Kindern mit chronischen Bauchschmerzen jedoch meist eine erhöhte Sensibilität vorliegt, werden die Bewegungen des Magen-Darm-Trakts stark wahrgenommen und vom Gehirn übermäßig beantwortet, nämlich mit einem Schmerzsignal.
Warum reagiert der Körper bei manchen Kindern so?
Ausgelöst sein kann dieser wiederkehrende Bauchschmerz durch eine Stresssituation, aber auch durch freudige Aufregung, und ist somit keine psychosomatische Erkrankung im eigentlichen Sinne. Früher hat man die Kinder mit chronischen Bauchschmerzen gerne in die " Psycho-Ecke" geschoben, heute hat sich das Verständnis gewandelt, weil wir von einem anderen Schmerzmodell ausgehen.
Woran können Eltern erkennen, welche Problematik bei ihrem Kind vorliegt?
Ganz wichtig ist, wie sich das Kind im Bauchschmerz und auch in der bauchschmerzfreien Phase verhält. Lässt es sich gut ablenken? Ist der Bauch stark berührungsempfindlich? Ist er angespannt oder weich? Außerdem geht es um die Lokalisierung des Schmerzes: Der harmlose Bauchschmerz befindet sich eigentlich immer in der Bauchmitte um den Nabel herum und tritt phasenweise auf. Bei ernsthaften Erkrankungen hingegen kann der Schmerz meist an ganz eindeutigen Stellen angegeben werden. Es gibt dann auch oft eine Ausstrahlung in den Rücken oder in die Leiste. Auch wenn ein Kind nachts wegen der Bauchschmerzen aufwacht, sollte man aufmerksam werden. Wichtig ist außerdem noch, ob ein Kind Stuhlgang machen kann und dadurch eine Entlastung verspürt.
Was können Eltern tun, um Bauchschmerzen zu lindern?
Das Wichtigste ist erst einmal, das Kind zu beruhigen, damit sich die eigene Unruhe nicht auf das Kind überträgt. Bei akuten Beschwerden kann man dem Kind eine Wärmflasche machen, sich zu ihm kuscheln, eine warme Hand auf den Bauch legen. Man darf auch ein bisschen im Uhrzeigersinn massieren, bei einer Verstopfung regt das die Darmtätigkeit an und man bekommt mit, ob das Kind eine Berührung als wohltuend empfindet oder nicht. Oft empfiehlt es sich auch, das Kind zu einem Toilettengang zu ermuntern, ihm ein Glas Wasser zu geben und dann zu schauen, ob es ihm schon besser geht.
Es geht also auch um emotionale Zuwendung.
Genau. Das gilt vor allem für den akuten Bauchschmerz. Bei chronischen Schmerzen ist es anders. Da ist es wichtig, dass sie Eltern nicht schon vorausschauend nach den Beschwerden fragen, zum Beispiel: Hattest du heute Vormittag schon Bauchschmerzen? Das schafft immer diese Rückkoppelung und veranlasst das Kind, stärker in sich hineinzuhorchen. Gerade bei Kindern, die wiederholt Bauchschmerzen haben und bei denen eine Abklärung ergeben hat, dass es nichts Schlimmes ist, sollten Eltern die Schmerzwahrnehmung nicht noch unterstützen.
Was steckt hinter den chronischen Bauchschmerzen?
Bei chronischen, also innerhalb von zwei bis drei Monaten immer wiederkehrenden Bauchschmerzen, liegen nur bei circa 10 bis 15 Prozent der Kinder wirklich organische Ursachen zugrunde. Umgekehrt haben 85 bis 90 Prozent der Kinder keine Erkrankung, aber dennoch ein reales Schmerzgeschehen, das man ernst nehmen muss, denn die Kinder und Eltern leiden oft sehr. Wenn der Kinderarzt bei chronischen Beschwerden eine Organerkrankung ausgeschlossen hat, kann das Erlernen von Entspannungsverfahren hilfreich sein. Der Kinderarzt erklärt dem Kind, was in seinem Bauch passiert. Ergänzend kann eine verhaltenstherapeutische Schulung hilfreich sein, diese bieten geschulte Kinderpsychologen oder Kinderkliniken an. Hier kann geklärt werden, ob vielleicht ein psychisches Problem hinter den Beschwerden steckt, zum Beispiel eine Trennungssituation, ein Schulwechsel oder Mobbing.
Welche Rollen spielen Nahrungsmittelunverträglichkeiten?
Bei den Nahrungsmittelunverträglichkeiten geht es häufig um das Problem der Zuckerverdauung, also Milchzucker und Fruchtzucker. Die Milchzuckerunverträglichkeit (Lactoseintoleranz) ist genetisch bedingt und hat eigentlich keinen Krankheitswert, führt aber häufig zu Beschwerden. Das Problem mit dem Fruchtzucker ist, dass heute sehr viele unserer Nahrungsmittel mit Zuckerkomponenten angereichert sind, zum Beispiel Fruchtsäfte und Müsli. Kinder werden im Laufe eines Tages geradezu überladen mit Fruchtzucker. Diese Mengen können nicht mehr verdaut werden, der Zucker wird im Darm vergoren, was zu Blähungen, Durchfall und Bauchschmerzen führen kann.
Wie ist die Allergie davon abzugrenzen?
Bei den Nahrungsmittelallergien geht es um die Eiweißstoffe in den Nahrungsmitteln. Für manche Säuglinge kann das Eiweiß in der Kuhmilch ein Problem darstellen. Bei älteren Kindern sind die häufigsten Nahrungsmittelallergene neben Kuhmilcheiweiß Hühnerei, Weizeneiweiß, Zitrusfrüchte, Soja und Substanzen, die in Fisch enthalten sind. Davon abgrenzen muss man die Zöliakie, die Unverträglichkeit von Gluten, das in allen gängigen Getreiden vorkommt.
Ist Verstopfung ebenfalls ein häufiges Problem?
Ja. Bei den kleinen Kindern hat die Verstopfungstendenz in den letzten Jahren eher zugenommen. Das kann unter anderem damit zusammenhängen, dass viele Kinder den Großteil des Tages in Betreuungseinrichtungen verbringen und nicht so gerne von fremden Personen gewickelt werden wollen. Sie halten den Stuhl an, genauso wie Schulkinder, die nicht die schmutzigen Schultoiletten benutzen wollen. Dann kann ein Teufelskreis entstehen, den man manchmal auch mit Medikamenten durchbrechen muss.
Spielen auch unsere Ess- und sonstigen Lebensgewohnheiten eine Rolle?
Auf jeden Fall. Kinder trinken oft etwas wenig. Außerdem sollten sie sich ausgewogen ernähren, Ballaststoffe müssen dabei sein, Obst und Gemüse, dafür wenig Weißmehlprodukte, die verlangsamen die Verdauungstätigkeit. Oft kommt außerdem noch ein Bewegungsmangel hinzu.
Was sollten Eltern noch wissen?
Bauchschmerzen bei Kindern sind sehr häufig und betreffen viele, manchmal über mehrere Jahre. In weit über 90 Prozent der Fälle sind die Ursachen jedoch harmlos. Harmlos heißt nicht, dass sie nicht belastend wären, aber sie schaden dem Kind nicht organisch. Weil sie aber dem Alltag schaden, ist es so wichtig, Lösungen zu finden.
Verhaltenstherapie
Kinder mit chronischen Bauchschmerzen, bei denen keine organischen Ursachen vorliegen, können von Übungen zur Schmerzbewältigung profitieren. Zugrunde liegt ein verhaltenstherapeutischer Ansatz, der auf der Erkenntnis basiert, dass unsere Schmerzverarbeitung beeinflussbar ist. Den Kindern wird vermittelt, dass unser Gehirn wie ein Computer mit unserem Darm verbunden ist und dass es die Vorgänge, die sich dort abspielen, „interpretiert“, also zum Beispiel als Schmerz wahrnimmt. Das Verhaltenstraining für die Kinder setzt daran an. Es geht darum zu verstehen, was sich im Bauch abspielt, was Schmerz eigentlich ist und wie man mit ihm umgehen kann. Kinder lernen Atemtechniken, Entspannungsverfahren oder Techniken, wie sie sich vom Schmerz ablenken können. Ansprechpartner ist der Kinderarzt, der die Überweisung an Kinder- und Jugendpsychologen veranlassen kann.
Wann zum Arzt?
Bei folgenden Symptomen sollte ein Bauchschmerz unbedingt abgeklärt werden:
- Der Schmerz tritt auch nachts auf.
- Der Schmerz steht im Zusammenhang mit den Mahlzeiten.
- Der Schmerz kann klar lokalisiert werden und befindet sich an einer anderen Stelle als im Nabelbereich.
- Der Schmerz geht einher mit Schluckbeschwerden.
- Der Säugling nimmt nicht zu und wächst nicht bzw. hat Gewicht verloren.
- Es kommen wiederholt andere Symptome wie Fieber, Erbrechen, Durchfall hinzu.
- Das Erbrochene enthält Blutfäden oder der Stuhl enthält viel Schleim und Blutfäden.