„Kann ich einen Kuchen backen?“ Mit leuchtenden Augen blickt Theo seinen Vater an. Der denkt kurz an die verwüstete Küche, die er in einer halben Stunde vor sich haben wird, aber er stimmt zu. Sofort geht der Sechsjährige ans Werk, kippt Mehl, Eier, Butter und Milch zusammen. Der Vater hält sich raus, erinnert kurz an den Zucker – damit die ganze Familie das Backwerk später ehrlich lobend kosten kann – und hilft nur dabei, den Teig in die Form und diese in den Ofen zu geben. Wenige Minuten später verbreitet sich Kuchenduft in der ganzen Wohnung.
Kinder lieben es, Dinge selbst auszuprobieren, die sie bei den Eltern oder anderen erwachsenen Bezugspersonen beobachten. „Sie müssen sich die Welt aneignen – und tun das im Kita-Alter aktiv und neugierig“, sagt Robert Baar, Professor für Elementar- und Grundschulpädagogik an der Universität Bremen. Noch fehlen ihnen viele praktische Lebenserfahrungen, deshalb ist ihr Gehirn in diesem Alter noch nicht in der Lage, alles nur theoretisch zu durchdenken. Also müssen Kinder so viel wie möglich selbst begreifen: im Sinne von „verstehen“, aber auch von „anfassen“ und mit allen Sinnen erleben. Das gelingt am besten, wenn die Kinder sich mit Dingen beschäftigen, die sie interessieren. Und dazu gehört in diesem Alter fast alles in ihrer direkten Umgebung. Dann geben sie sich ganz dem Spiel und der Erkundung dieser Dinge hin. Sie kommen in den flow, der sie glücklich macht, wie es der US-amerikanische Psychologe Mihály Csíkszentmihályi nennt.
Erfahrungen trainieren das Gehirn
„Das kann man eigentlich nur erreichen, wenn man die Kinder in Erfahrungsräume bringt, wo sie alle Sinne gleichzeitig benutzen“, sagt Hirnforscher Gerald Hüther. „Das sind die besten Lernerfahrungen. Da ist das ganze Hirn aktiv, da flackert es überall.“ So gefordert, behält unser zentrales Steuerorgan die meisten der zahlreichen Verschaltungen, die nach jüngsten neurobiologischen Erkenntnissen von Geburt an vorhanden sind. Werden Kinder dagegen immer nur belehrt, mit Filmen oder Videospielen berieselt, stärkt das nur einseitig die dafür wichtigen Synapsen; andere werden schwächer. Hüther: „Aus neurobiologischer Sicht ist es deshalb günstiger als jede Belehrung, wenn man Kindern die Möglichkeit gibt, sich lange genug selbst entdecken zu können.“
Theos Familie sitzt mittlerweile am Tisch, jeder bekommt ein Stück Kuchen auf den Teller. Der Junge wartet gespannt auf Reaktionen. „Schmeckt gut, sehr lecker“, loben die Eltern. Theo platzt fast vor Stolz und strahlt übers ganze Gesicht. „Solch ein Erfolgserlebnis gibt Selbstvertrauen“, sagt Robert Baar, der Bremer Erziehungswissenschaftler. Allerdings sollten die Eltern zuvor beim Zusammenrühren des Teigs nicht dauernd korrigierend eingegriffen, sondern nur offen ihre Hilfe angeboten haben. „Aus dieser Kombination entsteht Selbstvertrauen“, erklärt Baar, „das Kind will etwas erreichen, erhält Unterstützung und am Ende Zuspruch.“ Wenn dann der Kuchen auf dem Tisch steht und damit das Ziel erreicht ist, verstehen die Kinder außerdem, dass sie selbst etwas bewirken können. Nach einer solchen Erfahrung wagen sich die Mädchen und Jungen mit Zuversicht an die nächste, vielleicht größere Aufgabe heran.
Zuweilen brauchen Eltern Geduld, wenn die Kinder sich erstmals an Dingen des Alltags ausprobieren. Das Schlüsselloch im schmalen Türschloss zu finden, kann schon mal einige Minuten dauern. Aber für das Kind ist diese Zeit wichtig, auch wenn das Sicherheitsschloss am Ende für die kleinen Finger vielleicht zu stark hakt und die Tür doch verschlossen bleibt. „Man sollte seine Kinder nicht immer vor Rückschlägen bewahren“, warnt Pädagoge Baar. Nur wenn die Kleinen lernen, mit Niederlagen umzugehen, entwickeln sie Frustrationstoleranz und können später mit unweigerlich kommenden Niederlagen umgehen. Das ist ein wichtiger Faktor für die Ausbildung der Resilienz, die Menschen dazu befähigt, auch schwierige Situationen durchzustehen. Lob ist übrigens wichtig, sollte aber nicht grundlos und übertrieben verteilt werden. Baar vertritt die These, dass daraus übersteigertes Selbstbewusstsein entstehen kann. Solche Kinder überschätzen sich latent.
Nicht zu vorsichtig sein
Noch vor drei, vier Generationen waren Kinder hierzulande viel mehr als heute sich selbst überlassen. Ideale Voraussetzungen dafür, sich selbstständig zu beschäftigen. Heute klagen Bildungswissenschaftler zuweilen über das Gegenteil. Aus guten Absichten heraus nehmen Eltern ihren Kindern alles ab, was diese eigentlich schon können. Oder sie ahnen jede kleinste Gefahr voraus und unterbinden die entsprechenden Erfahrungen: Sie fahren das Kind in die Schule, auch wenn der Weg nur anderthalb Kilometer lang ist. Oder sie melden den Nachwuchs zu mehreren Nachmittagskursen pro Woche an. Dann ist das Kind immer beaufsichtigt und folgt nur den Anweisungen der Kursleitenden. Mit negativen Folgen: Den Mädchen und Jungen fehlen die Primärerfahrungen, sie können ihre Motorik nicht schulen und werden denkfaul. „Wenn Kinder einmal das Interesse verloren haben, ist es schwer wieder zu wecken“, sagt Erziehungswissenschaftler Baar. Und Kindern, die zum Beispiel nie frei klettern dürfen, fehlt nicht nur die Gelegenheit, ihr Körpergefühl zu trainieren. Sie verpassen es auch, ihr räumliches Orientierungsgefühl zu schulen oder dreidimensional denken zu müssen. „Wie wir aus Studien wissen, ist die beste Vorbereitung auf den Matheunterricht in der Grundschule, wenn man im Kindergartenalter auf Bäume klettert oder balanciert“, fasst Hirnforscher Hüther zusammen. „Dann gibt man dem Hirn Gelegenheit, diese dreidimensionalen Rechenoperationen auszuführen, die man bei der Bewegung im Raum braucht. Das ist die beste Vorstufe, um dann auch dreidimensional im abstrakten Raum das zu tun, was wir Rechnen nennen.“ Dazu kommt: Wer seine Kinder vor jedem noch so kleinen Risiko bewahrt, hindert sie daran, Gefahren einschätzen zu lernen.
Schon kleine Schritte reichen
Im Familienalltag gibt es viele Möglichkeiten, Kinder eigenständig handeln zu lassen. Sie können zum Beispiel selbst ihre Kleidung aussuchen – solange sie nicht bei Frost die kurze Sommerhose anziehen wollen. „Dann dürfen Eltern natürlich Einspruch erheben und auf wärmeren Sachen bestehen“, rät Robert Baar. „Immerhin tragen sie die Verantwortung für das Wohlergehen des Kindes.“ Sollte das vom Nachwuchs selbst ausgewählte Kleidungsstück aber nur ein wenig zu dünn sein, darf das Kind ruhig einmal die Erfahrung machen, ein bisschen zu frieren. Bevor es den vorsorglich eingepackten dickeren Pullover bekommt. Ein Brot übrigens können Kinder schon sehr früh selbst schmieren, und zwar dann, wenn sie danach verlangen. In der Regel nimmt man dafür ja auch nicht das schärfste Messer des Haushaltes.