Lea fängt in Spielsituationen regelmäßig an zu treten, wenn etwas nicht nach ihrem Willen läuft. Beim Mittagessen spielt sie oft den Clown, nimmt anderen Kindern den Löffel weg und stört sie beim Essen. Wird sie ermahnt, grinst sie nur, was wiederum die Fachkräfte auf die Palme bringt.
Kinder wie Lea, die schnell aggressiv werden, sich unsozial verhalten und provozieren, gibt es wohl in jeder Kitagruppe. Ihr Verhalten fordert Fachkräfte heraus. Nicht selten überfordert sie es. „Leider wird man in der Ausbildung auf dieses Thema nur unzureichend vorbereitet, Lösungsansätze oder Konzepte gibt es kaum“, sagt Ulrike Gesch. Die Berliner Erzieherin hat am eigenen Leib erfahren, wie sich das anfühlt. „Während meiner Ausbildung hatte ich mit Kindern zu tun, die getreten und geboxt haben, nicht nur andere Kinder, sondern auch mich. Ein Junge hat regelmäßig Spielsachen geworfen oder Hefte zerrissen. Jeden Tag ist die Situation aufs Neue eskaliert. Das hat mich an meine persönlichen Grenzen gebracht“, erzählt Gesch, die sich in ihrer Facharbeit ausführlich mit dem Thema beschäftigt hat.
Wenn Kinder hauen, treten oder beißen, sprechen Erwachsene oft ein Machtwort. Sie schimpfen, trennen die Streithähne oder versuchen herauszufinden, wer angefangen hat. Das mag für den Augenblick genügen. Aber auf Dauer bringt das meist wenig. „Sobald man mit pädagogischen Maßnahmen nicht mehr weiterkommt, ist es hilfreich, auf die Gesamtdynamik zu schauen“, sagt Jeanette Schmieder. Die Sozialpädagogin arbeitet als systemische Familientherapeutin, Supervisorin und Weiterbildnerin für pädagogische Fachkräfte. TherapeutInnen, die nach dem systemischen Ansatz arbeiten, konzentrieren sich nicht auf das Individuum und sein defizitäres Verhalten, sondern gehen davon aus, dass jeder Mensch sich und sein Verhalten an seine Umwelt anpasst. Das heißt: Ändert sich die Umwelt, ändert sich auch das Verhalten. Auf den pädagogischen Kontext übertragen, lautet die Frage also nicht: Warum haut und beißt Lea schon wieder? Sondern: Welche Faktoren tragen dazu bei, dass Lea haut und beißt – und wie können wir diese so verändern, dass Lea das nicht mehr tun muss?
„Aggressives Verhalten ist ein sehr komplexes Störungsbild und immer ein Zusammenspiel mehrerer Komponenten, die miteinander in Verbindung stehen“, erklärt die Professorin für Kindheitspädagogik Maike Rönnau-Böse von der Evangelischen Hochschule Freiburg. So gibt es Kinder, die schnell überreizt sind oder mit Kritik nicht umgehen können. Natürlich spielt die Situation zu Hause eine Rolle. Kinder aus überforderten oder dysfunktionalen Familien etwa haben oft wenig feste Strukturen, Sicherheit und Halt erfahren. Aber auch der Entwicklungsstand des Kindes ist zu berücksichtigen: Bestimmte Kompetenzen, etwa die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, entwickeln sich erst im Alter von drei bis vier Jahren und bei manchen eben auch erst später. Nicht zuletzt kann auch die Alltagsgestaltung in der Kita dazu führen, dass Stress entsteht, sei es, dass es zu wenig Freispiel gibt, die Gruppe zu groß ist oder Räume zum Ausruhen fehlen.
Braucht Lea gerade besonders viel Beachtung? Deutet ihr Verhalten auf häusliche Probleme hin? Ist sie von der Gruppengröße überfordert? Das sind alles Informationen, die bei einer Teamberatung zusammengetragen werden können. „Fachkräfte müssen genau hinschauen und beobachten, wann das Verhalten auftritt. Dann erfolgt das Analysieren und Verstehen, anschließend geht man in die Planung der Maßnahmen“, erklärt Rönnau- Böse. „Erforderlich ist immer auch ein Gespräch mit den Eltern. Und bitte auch mit dem betroffenen Kind, auch wenn es erst drei oder vier Jahre alt ist.“ Vielleicht kann das Kind nicht viel zu seinem Verhalten sagen, man signalisiert ihm jedoch zumindest, dass man sich Sorgen macht und ihm helfen möchte.
„Ganz wichtig ist die Beziehungsarbeit“, hat die Berliner Erzieherin Ulrike Gesch festgestellt. Gerade Kinder mit auffälligem Verhalten kann eine konstante Bezugsperson positiv beeinflussen. „Kinder, die aggressiv sind, brauchen oft jemanden, der ihnen das Gefühl gibt: Ich mag dich so, wie du bist“, sagt Gesch. Denn diese Kinder leiden oft selbst unter ihrem Verhalten. Wer kratzt, kneift und beißt, macht sich unbeliebt und hat wenig Freunde. Manchmal führt das im Kita-Alltag dazu, dass niemand mit den kleinen Rüpeln oder Nervensägen spielen will. Oder dass sich der Ruf als Kita-Schreck schon bis zu den Eltern herumgesprochen hat, die dann bei der nächsten Spiel- oder Geburtstagseinladung besagtes Kind einfach übergehen. Solche Ausgrenzungserfahrungen sind frustrierend und können das aggressive Verhalten unter Umständen noch verstärken.
Selbstreflexion
Letztlich hängt es von der Einstellung der Erwachsenen ab, ob ein Verhalten als noch akzeptabel empfunden wird oder schon stört. Denn auch pädagogische Fachkräfte neigen dazu, Kindern einen Stempel aufzudrücken. Der- oder diejenige gilt dann als schwierig und wird automatisch als Verursacher von Spannungen und Konflikten stigmatisiert. „Typisch Lea“, heißt es dann, „warum kann sie nicht so friedlich spielen wie die anderen?“ Dass gar nicht Leas Verhalten allein die Situation hat eskalieren lassen, sondern andere Faktoren ausschlaggebend waren, wird gar nicht mehr in Betracht gezogen.
„Ich rate Erzieherinnen und Erziehern, aber auch Eltern immer, ihr eigenes Konfliktverhalten unter die Lupe zu nehmen“, sagt Familientherapeutin Schmieder. „Also: Welche Gefühle lösen herausfordernde Situationen bei mir aus? Wie reagiere ich selbst bei Streit? Bin ich pragmatisch, gebe ich schnell nach oder presche ich vor und mache meinem Gegenüber lautstark Vorwürfe?“
Natürlich müssen Fachkräfte in einen akuten Konflikt eingreifen und aggressive Kinder stoppen. Dabei kommt es aber nicht zuletzt auf eine wertschätzende und vorurteilsfreie Kommunikation an. „Es ist möglich, klare Grenzen zu setzen und dabei trotzdem ruhig und zugewandt zu bleiben“, sagt Jeanette Schmieder. Ermahnungen wie „Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass …?“ bringen Kinder eher noch stärker in den Widerstand. Besser sei es, offene Fragen zu stellen: „Was hat dich so wütend gemacht?“ oder „Was würdest du beim nächsten Mal anders machen?“ So kann man kleine Hitzköpfe dazu bringen, über ihr Verhalten nachzudenken und nach Lösungen zu suchen.
Die Lage beruhigen
Das geht aber nur, wenn die Emotionen nicht mehr überkochen. Ein völlig aufgebrachtes Kind zu beruhigen, ist nicht immer einfach. Rituale, etwa Atemübungen, können da helfen, aber sie funktionieren nicht von heute auf morgen, sondern müssen ein paar Wochen lang eingeübt werden. Und oft brauchen unterschiedliche Kinder unterschiedliche Angebote zum Runterkommen, wie Erzieherin Ulrike Gesch festgestellt hat. „Manche haben das große Bedürfnis, draußen ein paar Runden zu drehen, um sich abzureagieren. Andere wollen nur eines: ganz fest gehalten werden.“
„Stress macht alles noch schlimmer“
kizz sprach mit Maike Rönnau-Böse, der Professorin für Kindheitspädagogik an der Evangelischen Hochschule Freiburg
Wer mit pädagogischen Fachkräften, aber auch mit Eltern redet, bekommt den Eindruck, es gäbe heute mehr verhaltensauffällige Kinder als früher. Ist das so?
Alle großen Studien, die es dazu gibt, sagen das Gegenteil. Der Anteil der Kinder mit einer diagnostizierten psychischen Erkrankung bewegt sich seit Jahren auf gleichem Niveau. Aber es stimmt, dass viele das anders empfinden. Einmal, weil man heute genauer hinschaut. Zum anderen, weil die Anforderungen an die pädagogischen Fachkräfte enorm gestiegen sind. Es gibt viel mehr Aufgaben zu bewältigen als noch vor 20 Jahren, zum Beispiel die Beobachtung und Dokumentation; auch die Pisa-Studie hat dazu beigetragen, dass die Kita mehr im Fokus steht und vieles richten soll.
Nicht nur Fachkräfte, auch Eltern sind oft unter Druck.
Ja, und dann reagiert man eben auch empfindlicher auf seine Umwelt. Wer am Tag viele Termine bewältigen muss oder vielleicht gerade Stress auf der Arbeit hat, hat wenig Nerven für die besonderen Bedürfnisse eines Vierjährigen. Deswegen sprechen wir nicht von verhaltensauffälligen, sondern herausfordernden Kindern. Was den einen herausfordert, ist für den anderen noch im Rahmen. Das hängt mit dem individuellen Belastungsempfinden und den eigenen Grenzen zusammen.
Ab wann gilt ein Kind als verhaltensauffällig?
Es gibt verschiedene medizinische Diagnosekriterien, die etwa PsychotherapeutInnen durchgehen, um festzustellen, ob eine Behandlung notwendig ist bzw. ob man von einer Störungsdiagnose sprechen kann. Wenn Kinder schnell wütend werden, feindselig gegenüber Autoritätspersonen sind und sich Regeln widersetzen, kann das zum Beispiel auf eine „Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten“ hindeuten. Aber dazu muss dieses Verhalten täglich und massiv auftreten, also fünf Tage die Woche über einen Zeitraum von sechs Monaten.
Fachkräfte sollten also Kinder über Monate hinweg beobachten?
Ja, das ist zwingend notwendig, um zu verstehen, ob es sich wirklich um ein aggressives Kind handelt oder ob andere Dinge eine Rolle spielen. Verhält sich das Kind zum Beispiel immer nur nach dem Wochenende aggressiv, in unruhigen Situationen oder dann, wenn Anforderungen an es gestellt werden?
Was können Eltern tun?
Auch die Eltern sollten das Verhalten ihres Kindes genau beobachten. Kein Kind ist von morgens bis abends aggressiv. Hilfreich ist es, den Fokus auf die Stärken zu legen, nicht auf die Schwächen: also darauf zu schauen, in welchen Situationen das Zusammensein besonders gut gelingt. Oft verliert man den Blick für die Phasen am Tag, wo alles schön ist. Ich empfehle, Tagebuch zu führen, so eine Art Wochenplan. So kann man erkennen, dass etwa ein Kind immer dann auffällig wird, wenn man von der Arbeit nach Hause kommt.