Für uns Eltern gibt es wohl nichts Spannenderes als dem eigenen Nachwuchs bei der Eroberung seiner Welt zuzusehen. Besonders fasziniert mich immer wieder die Entwicklung der Sprache. Aus dem ersten „Baba“ wird „Mama“ oder „Papa“. Und „Ball“ ist irgendwann nicht mehr der Universalbegriff für alles, auf das mit kleinen Händen gezeigt wird. Täglich wachsen der Wortschatz und das Gefühl für Sprache. Kinder sind dabei sehr aufmerksame Beobachter und gute Zuhörer. Deshalb entgeht ihnen auch nicht, dass Buchstaben und geschriebene Worte in der Welt der Erwachsenen eine wichtige Rolle spielen. Beim Spaziergang durch die Stadt sehen sie diese Buchstaben an Häusern, auf Schildern oder Schaufenstern. Auch ihre Lieblingsbücher sind nicht nur voller Bilder, sondern auch voller Wörter. Selbst auf dem Pullover steht etwas drauf. Manchmal kommt auch ein handgeschriebener Brief von Oma, oder Papa muss nach dem Bezahlen mit einer Plastikkarte etwas unterschreiben.
Erstes Interesse für Schrift
Dass sich irgendetwas Spannendes hinter diesen komischen Symbolen verstecken muss, hat auch mein dreijähriger Sohn erkannt. Regelmäßig soll ich ihm die Buchstaben auf meinem Pullover oder auf Schildern erklären. H wie Hund, M wie Maus, P wie Paw Patrol. Hoch im Kurs steht auch das Schreiben. Regelmäßig schreibt mein Sohn Einladungskarten für seinen Geburtstag – wahlweise für die Kindergartenfreunde, Pippi Langstrumpf oder Peppa Wutz. Zum Glück verrät er mir, was er gerade schreibt. Seine Schrift erinnert nämlich stark an die Herzlinie eines unruhigen Elektrokardiogramms.
„Etwa ab dem dritten oder vierten Lebensjahr beginnen Kinder, sich für Schrift und Buchstaben zu interessieren. Sie fordern zum Beispiel ein, dass man ihnen bestimmte Stellen im Kinderbuch oder die Schrift auf einem Plakat vorliest“, erklärt Katrin Alt, Professorin für Kindheitspädagogik und Bildungswissenschaften an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Hamburg. Außerdem erkennen Kinder erste Wörter wie ihren eigenen Namen wieder oder können kurze und lange Wörter voneinander unterscheiden. Dieses aufkommende Interesse an der Welt der Worte und Buchstaben sollten Fachkräfte und Eltern unbedingt aufgreifen, findet Alt. In der Pädagogik spricht man auch vom „Literacy-Ansatz“. Dabei geht es keineswegs darum, Kindern schon im Kitaalter Lesen und Schreiben beizubringen, sondern um erste positive Erfahrungen mit der Erzähl-, Sprach- und Schriftkultur. „Vorlesen, miteinander sprechen, vielfältige Sprachanlässe schaffen, sich Geschichten erzählen, all das ist für die kindliche Entwicklung sehr wichtig und wirkt sich auch positiv auf den Schrifterwerb und das Lesenlernen in der Schule aus“, erklärt Alt. Schließlich sei unsere Schrift nur eine weitere Ausdrucksform von Sprache. Die gute Nachricht für alle Eltern: Der Literacy-Ansatz verlangt keine Schwungübungen oder das Auswendiglernen von Buchstaben, sondern setzt eher auf Alltagserfahrungen und kindliche Neugier – und auf zwei der schönsten Beschäftigungen mit Kindern überhaupt: das Vorlesen und das Erfinden eigener Geschichten.
Ein Instrument für die kreative Förderung von Sprache und Lesefreude sind Bilderbücher. An ihnen haben schon die Kleinsten große Freunde. Abwaschbar und bissfest sind die ersten Bücher mit Bällen, Autos oder Tieren. Größere Kinder begeistern sich oft für Wimmelbücher. Der Ansatz ist ähnlich: Bilderbücher liefern Sprachanlässe. Und je älter die Kinder sind, desto besser können sie selbst zu Erzählern werden. Aber natürlich ist auch Vorlesen ein wichtiger Baustein der Sprachförderung. Ein einfaches Beispiel: Wenn Eltern mit dem Finger zeigen, welches Wort sie gerade lesen, erfahren die Kinder, dass Buchstaben und Worte eine Bedeutung haben und dass man deutschsprachige Texte von links nach rechts liest. Und die Kinder erleben, wie viel Freude Bücher machen und dass es sich lohnt, selbst lesen zu lernen. Ein in der Kindheitspädagogik sehr beliebter Ansatz ist das „dialogische Vorlesen“. „Vereinfacht könnte man es mit ‚über das Buch ins Gespräch kommen‘ erklären“, sagt Annegret Kieschnick, Expertin für Sprachentwicklung und -förderung beim bundesweiten Kitaträger FRÖBEL Bildung und Erziehung gGmbH. Die Kinder werden durch Fragen wie „Wie könnte die Geschichte wohl ausgehen?“ oder „Wie hättest du dich verhalten?“ angeregt, über die Geschichte nachzudenken und sie weiterzuerzählen. Gerade das freie Sprechen, das Argumentieren und Erzählen fördert kommunikative und soziale Kompetenzen. Dabei darf es auch mal verrückt zugehen: So helfen selbst ausgedachte Reime Kindern dabei, Silben zu unterscheiden. Auch das ist eine wichtige Grundlage für das Schreiben und Lesen. Ein ebenfalls nicht zu unterschätzender Faktor für die Sprachentwicklung ist das kindliche Rollenspiel. Im Spiel mit Puppen, Playmobil oder Freunden im Sandkasten ist Sprache immens wichtig. Den Mitspielern muss die Situation erklärt werden, oft gibt es Diskussionen über die Rollenverteilung – all das bringt den kindlichen Wortschatz und das Gefühl für Sprache weiter.
Buchstaben überall entdecken
Natürlich können Pädagogen und Eltern auch Schrift und Buchstaben direkt zum Thema machen. Annegret Kieschnick nennt das „schriftfreundliche Umgebung“. Zum Beispiel stehen in vielen Kitas die Namen der Kinder auf der Garderobe, dem Trinkbecher, der Zahnbürste oder dem eigenen Ordner. In vielen Einrichtungen gibt es außerdem „Schreibstationen“ mit Papier, Heften, Stempeln und Stiften. Auch Tafeln mit Buchstaben-Magneten oder Buchstaben- Puzzles finden sich dort. An der Station können die Kinder Briefe schreiben, sich „Notizen“ machen oder einfach nur drauflosmalen. „Malen und zeichnen sind feinmotorisch eine gute Basis für das Schreiben. Viele Kinder versuchen außerdem schnell, selbst zu schreiben“, berichtet die Pädagogin. Stolz halten sie uns dann wilde Kritzeleien unter die Nase, die wahlweise Geburtstageinladungen für Lieblingshelden, Wunschlisten an den Weihnachtsmann oder Briefe an die Oma sein könnten. Kieschnick rät, dieses Interesse der Kinder an Schrift ernst zu nehmen und sie darin zu bestärken. Ein spannender Ansatz ist auch das sogenannte Diktat. Dabei erzählen mehrere Kinder gemeinsam eine Geschichte und die Fachkraft schreibt mit. Jedes Kind bekommt eine eigene Farbe. Am Ende wird die Geschichte als Plakat aufgehängt und die Kinder erkennen anhand der Farben ihren Anteil an der Geschichte. Wichtigste Voraussetzung für all diese Ideen ist natürlich das kindliche Interesse. „Wenn ein Kind vor der Grundschule noch keine Buchstaben schreiben will oder sich nicht für die Schreibweise seines Namens interessiert, müssen sich die Eltern keine Sorgen machen“, beruhigt die Kindheitspädagogin Katrin Alt. „Richtig“ lesen und schreiben lernen die meisten Kinder schon früh genug – und zwar in der Grundschule.
Ideen für das Entdecken von Buchstaben und Schrift
- Kinder, die sich sehr für Buchstaben interessieren, freuen sich über attraktives Buchstabenmaterial, zum Beispiel: Buchstabenpuzzles, Bügelperlen, Buchstaben zum Auffädeln oder Ausstechformen in Buchstabenform.
- Zum Spielen rund um das Thema sind außerdem geeignet: Buchstaben-Stempel, Briefumschläge und viel Papier, aus dem die Kinder zum Beispiel selbst kleine Bücher basteln können.
- Es empfiehlt sich, Buchstaben immer lautierend auszusprechen (also beim Buchstaben „M“ ein „m“ und kein „em“), dann können die Kinder hören, wie die Buchstaben klingen, und sie leichter in den Wörtern entdecken.
- Manche Kinder haben Lust, ihren eigenen Namen und die Namen von Mama, Papa, den Geschwistern und Opa und Oma zu schreiben. Eltern können die Namen in Großbuchstaben vorschreiben und die Kinder nachschreiben lassen. Das alles sollte jedoch ohne Druck geschehen. Es ist auch nicht wichtig, wie das Ergebnis aussieht, ein E darf gerne einen Strich mehr haben oder spiegelverkehrt sein.