Louisa ist erst kürzlich mit ihrer Mutter Elena Krüger* nach Norddeutschland gezogen. In der neuen Kita hat sich die aufgeweckte Vierjährige gut eingelebt, schnell Freunde gefunden. Nur eine Erzieherin mag sie partout nicht. Mehrmals schon hat Louisa sich zu Hause beschwert, dass diese sie dazu zwinge, mittags ihren Teller leer zu essen. Die Mutter wird hellhörig. Denn: „Das passt gar nicht zu meinem Kind.“ Louisa sei keine mäkelige Esserin, sondern in der ganzen Familie für ihren großen Appetit bekannt. Was tun? Die Erzieherin mit den Vorwürfen konfrontieren? „Ich konnte ja nichts beweisen.“
Oft ist es nur ein Bauchgefühl, das Eltern unruhig werden lässt. Ist mein Kind in dieser Kita, in dieser Gruppe, bei dieser bestimmten Fachkraft gut aufgehoben? Irgendwas scheint nicht zu stimmen. Das Kind wirkt verändert, ist unglücklich, sträubt sich gegen den täglichen Kindergartenbesuch. Was mag dahinterstecken? Gibt es dort möglicherweise verbale oder körperliche Übergriffe auf die Kinder?
Auf den Bauch hören
Jörg Maywald ist Professor für Kinderrechte und Kinderschutz und Geschäftsführer der gemeinnützigen Deutschen Liga für das Kind, einem Zusammenschluss zahlreicher Kinder- und Familienhilfeorganisationen. Seit vielen Jahren forscht er über Formen von Kindeswohlgefährdung in Kindertagesstätten. Sein Rat ist unmissverständlich: „Ein Bauchgefühl ist kein Hirngespinst.“ Eltern sollten und dürften auf ihre Intuition vertrauen. Und eine gute Einrichtung nehme das Bauchgefühl von Eltern ernst. Wenn eine Mutter oder ein Vater in Sorge sei, kritische Fragen habe oder Details über die täglichen Abläufe wissen wolle, „muss ein zeitnahes Gespräch jederzeit möglich sein“. Sollten sich die Fronten zwischen ErzieherInnen und Eltern bereits verhärtet haben, müsse das Gespräch von der Kitaleitung begleitet werden. „Und ich empfehle den Eltern, auch die Elternvertreter frühzeitig einzubeziehen.“
In Louisas Fall lief es anders. Elena Krüger sprach die betreffende Erzieherin eines Nachmittags beim Abholen an. Ob es stimme, dass die Kinder grundsätzlich ihre Teller leeren müssten. Die Fachkraft reagierte unwirsch – und drehte sich direkt zu Louisa. „Warum lügst du deine Mutter an?“, fuhr sie das Kind an. „Ich war über diese Reaktion total schockiert“, erinnert sich die Mutter. Ein vernünftiger Dialog sei nicht möglich gewesen. „Ich habe der Erzieherin dann sehr deutlich gesagt, dass ich Zwang beim Essen absolut inakzeptabel finde.“ Mutter und Tochter gingen an diesem Tag mit einem unguten Gefühl nach Hause. Was, wenn Louisa nun ausbaden musste, dass die Mutter es gewagt hatte, die Fachkraft zu kritisieren?
Gewalt hat viele Formen
Essen, Schlafen, Anziehen, Ausflüge, Wickeln, Toilettengänge: In den sogenannten „pädagogischen Schlüsselsituationen“, erklärt Jörg Maywald, seien Fachkräfte besonders gefordert. „Dabei kommt es nicht selten zu Stress und Anspannung.“ Der Großteil der ErzieherInnen kann damit ruhig, selbstreflektiert und professionell umgehen. Andere lassen ihren Ärger an den Kindern aus, reagieren mit Strafandrohungen oder Beschimpfungen, zerren oder schubsen die Kinder herum. Auch ständige Herabwürdigungen oder mangelnde körperliche Pflege – etwa wenn ein Kind absichtlich über Stunden nicht gewickelt wird – sind Formen von Gewalt. Für die Kleinen können solche Übergriffe auf Dauer schwere psychische Folgen haben. Besonders gefährdet seien die unter Dreijährigen, sagt Maywald. „Je jünger, desto verletzlicher.“ Kleinkinder können sich kaum wehren: Sie können weder den Eltern schildern, was in der Kita passiert ist, noch sich alleine Hilfe holen.
In welchem Ausmaß es in deutschen Kitas zu Übergriffen und Fehlverhalten kommt, könne man lediglich schätzen. „Die Datenlage ist sehr dünn“, sagt Maywald. Es gäbe keine wirklich repräsentativen Studien. Statistisch erfasst werden nur die wenigen Fälle, bei denen Eltern Anzeige erstatten. Etwa bei Verdacht auf körperliche Gewalt und sexuellen Missbrauch. Doch was ist mit den zahlreichen seelischen Verletzungen, die – so vermutet Maywald – in fast jeder Kita vorkommen? Ein Großteil davon wird nie gemeldet und somit nicht aktenkundig. Das Problem ist, dass viele Kitas keine institutionalisierten Beschwerdeverfahren haben. Dabei sind diese seit 2012 gesetzlich verpflichtend. „Die Praxis zeigt allerdings, dass die Beschwerdemöglichkeiten in vielen Kitas den Eltern nicht bekannt sind oder nur schlecht funktionieren“, sagt Maywald. Da gäbe es viel Nachholbedarf. Dabei kann ein klares Verfahren allen Beteiligten Sicherheit und Halt geben, wenn es zu Verdachtsfällen und Vorwürfen kommt. „Es gibt ja auch Falschbeschuldigungen oder elterliche Klagen, die ganz andere Ursachen haben.“ Im Rahmen von gut funktionierenden Strukturen könne das alles besprochen und meist auch geklärt werden.
In Louisas Fall war die Leiterin der Einrichtung keine Hilfe. Sie galt unter den Eltern als aufbrausend, war zudem oft monatelang krank. Zum Glück sprangen Louisa andere Erzieherinnen zur Seite, zu denen die Vierjährige ein gutes Verhältnis hatte. Mit diesen Fachkräften sei sie in den folgenden Wochen in engem Austausch gewesen, erzählt die Mutter. Über Essenszwang oder andere Drangsalisierungen habe sich Louisa seitdem nicht mehr beschwert. Ihre Tochter sei von der betreffenden Fachkraft in Ruhe gelassen worden.
Nicht immer gehen die Vorfälle so glimpflich aus. Viele Kinder leiden still. Viele Eltern haben Angst, bei einer schwerwiegenden Auseinandersetzung mit der Einrichtung den Kitaplatz zu verlieren. Und sind nicht auch die schlechten Arbeitsbedingungen in den Kindergärten mit schuld an der Misere? Ganz so einfach sei das nicht, sagt Jörg Maywald. „Es gibt schlecht ausgestattete Kitas, die hervorragende pädagogische Arbeit leisten.“ Umgekehrt gäbe es personell gut ausgestattete Einrichtungen, in denen Übergriffe an der Tagesordnung sind. Als entscheidende negative Faktoren nennt Maywald „das Fehlverhalten oder die Charakterschwächen einzelner Fachkräfte, fehlende Leitungsqualität, mangelnde Solidarität und Offenheit innerhalb der Teams – oder ein Klima der Angst“. Der Betreuungsschlüssel allein sei nicht ausschlaggebend. Allerdings begünstige eine schlechte Ausstattung Fehlverhalten und Gewalt durch Fachkräfte.
Seit dem Vorfall mit ihrer Tochter ist Louisas Mutter generell aufmerksamer geworden. Neulich auf dem Weg zur Arbeit beobachtete sie eine Kitagruppe beim Ausflug. Süße Zwei- und Dreijährige, jeweils zu zweit Hand in Hand, die mit ihren Erzieherinnen die Straße entlangliefen. Plötzlich fing eine Fachkraft an zu zetern: „Ich hab euch doch schon tausend Mal gesagt: Geht schneller! Bleibt zusammen! Stellt euch doch nicht immer so blöd an!“ Von oben herab prasselten die giftigen Worte auf die kleinen Köpfe ein. Elena Krüger blieb sofort stehen. Mit ruhiger, aber lauter Stimme sprach sie die fremde Erzieherin an. „Ich finde, Sie sollten nicht so mit den Kindern reden!“ Verdutzt hielt die Frau inne. Ob ihr Einschreiten eine nachhaltige Wirkung gehabt habe? Keine Ahnung, sagt Elena Krüger heute. Aber es habe sich gut und richtig angefühlt sich einzumischen.
kizz Tipp
Jede Kita sollte ein schriftlich fixiertes Schutzkonzept haben. Das ist ein Dokument, in dem die Fachkräfte gemeinsam mit Leitung, Elternvertretern und Kita-Träger mögliche Formen von Gewalt, Diskriminierung und Fehlverhalten festhalten, denen Kinder grundsätzlich nicht ausgesetzt werden dürfen. Das Schutzkonzept beinhaltet vor allem klare Standards bezüglich der pädagogischen Schlüsselsituationen – beispielsweise, dass Kinder niemals fixiert oder herumgezerrt werden dürfen. Oder dass sie nicht zum Essen, Schlafen oder Toilettengang gezwungen werden. „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung“, betont Professor Jörg Maywald, „und dazu gehört auch, dass seelische Verletzungen nicht zulässig sind.“ Sollte eine Kita noch kein Schutzkonzept haben, könnten Eltern und Elternvertreter das Thema aktiv anstoßen, rät Maywald. Auch wenn es bisher gar keine Vorfälle gegeben habe. „Das Schutzkonzept ist ein wichtiger Baustein bei der Prävention.“