Gewalt gegen KinderJeder Klaps hat Folgen

Gewalt gegen Kinder passiert häufiger als man denkt, jedoch wird nicht jeder Fall zur Anzeige gebracht. Wie es zur Gewalt gegen Kinder kommt und was im Notfall hilft.

Jeder Klaps hat Folgen
Kinder leiden lange unter den Folgen von Gewalt © SolStock - Getty Images

Seit Beginn der Corona-Pandemie warnen Hilfsorganisationen und Experten vor einem Anstieg von Gewalt gegenüber Kindern. Dabei nannte die Kriminalstatistik schon zuvor erschreckende Zahlen: Im Jahr 2019 wurden mehr als 4 000 Kinder unter 14 Jahren geschlagen und misshandelt; 16 000 Kinder mussten sexuellen Missbrauch erleben – eine Steigerung von fast 11 Prozent zum Vorjahr. Zwar verzeichnet die Polizei seit März dieses Jahres noch keinen wirklich spürbaren Anstieg von Gewalt, doch bis alle neuen Daten in die Statistiken eingehen, dauert es noch eine Weile. Zudem sind sich Fachleute sicher, dass viele Fälle oft erst verspätet oder gar nicht angezeigt werden. Das alles deutet auf eine hohe Dunkelziffer hin.

Hilfe zum Schutz der Kleinsten

Schulen und Kitas sind die Orte, an denen auffällt, wenn ein Kind ungewaschen ist, blaue Flecken hat, hungrig, verzweifelt oder dehydriert zu sein scheint. Doch während LehrerInnen trotz der Schulschließungen mit ihren Schülern noch irgendwie in Kontakt bleiben, ist niemand so sehr aus dem Blick der Öffentlichkeit verschwunden wie Säuglinge und Kitakinder. Umso wichtiger ist deshalb auch das aktuelle Angebot von Hilfetelefonen oder Online- Beratungen für Kinder, Eltern und ihr Umfeld. So finanziert das Bundesfamilienministerium die Medizinische Kinderschutzhotline, eine Kooperation der Uniklinik Ulm mit den DRK-Kliniken Berlin Westend. Bei ihr kann sich das Fachpersonal im Gesundheitswesen (Kinderärzte und -ärztinnen, Kinder- und JugendpsychotherapeutInnen, RettungssanitäterInnen oder ApothekerInnen) bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung melden. „Im März und April hatten wir weniger Anrufe als sonst. Im Mai waren wir wieder auf dem Stand von vor dem Lockdown“, sagt Oliver Berthold, Kinderschutzmediziner und Teamleiter der Kinderschutzhotline. „Die gesunkenen Zahlen bedeuten aber nicht, dass es während des Lockdowns nicht zu Krisensituationen in Familien gekommen ist.“ Erkennt Bertholds Team im Gespräch Hinweise auf eine Kindeswohlgefährdung, empfehlen die Berater dem Anrufer, beispielsweise Kontakt mit dem Jugendamt aufzunehmen oder den Eltern Beratungsangebote an die Hand zu geben. „Viele Familien waren anfangs nur damit beschäftigt, sich an die neue Lage anzupassen und die Betreuung ihrer kleinen Kinder neu zu regeln. Deshalb hatten sie gar keine Zeit, Beratungsangebote oder Arzttermine wahrzunehmen“, erzählt Maria Große Perdekamp, fachliche Leiterin des Kinderschutzbundes Köln. „Schon im Mai häuften sich bei uns wieder die Anfragen. Mittlerweile vergeben wir sogar etwas mehr Gesprächstermine als sonst. Viele Familien bearbeiten jetzt die Themen, die in den letzten Monaten bei ihnen entstanden sind."

Gewalt hat viele Gründe

Die Corona-Krise mag das Risiko für Gewalt gegen Kinder erhöht haben, doch die Mechanismen dahinter sind auch in ruhigen Zeiten die gleichen: Gewalt geschieht nie zufällig, sie hat vielschichtige Ursachen und ist immer in gesellschaftliche Verhältnisse eingebunden. Häufige Ursachen sind Einschränkungen und Belastungen, denen Eltern irgendwann nicht mehr gewachsen sind, etwa soziale Benachteiligung, Armut, körperliche oder seelische Krankheiten. Wer Partnerschaftsprobleme hat oder sich finanzielle Sorgen macht, kann den Kindern nicht unbedingt die nötige Ruhe, Geduld und Zuwendung entgegenbringen. Es muss vieles zusammenkommen, bevor Väter oder Mütter ihrem Kind etwas antun. Außerdem hat Gewalt gegen Kinder viele Gesichter: Es gibt körperliche Gewalt, seelische oder sexualisierte Gewalt, ebenso Vernachlässigung und digitale Gewalt, zum Beispiel in Form von Kinderpornografie oder Cybermobbing. All diese Verhaltensweisen sind nicht nur ausnahmslos indiskutabel, sie sind auch gesetzlich verboten. Seit November 2000 ist das Kinderrecht auf eine gewaltfreie Erziehung im Bürgerlichen Gesetzbuch verankert. Eltern, die dagegen verstoßen, machen sich strafbar. Unterscheidet sich eigentlich die Art, wie Frauen und Männer Gewalt ausüben? „Das ist in der Tat so“, sagt Kathinka Beckmann, Professorin für Sozialwissenschaften an der Hochschule Koblenz und Kinderschutzexpertin. Demnach fügen Mütter ihrem Kind oft thermische Verletzungen zu, sie verbrennen oder verbrühen es mit heißem Wasser. Oder sie bestrafen ihr Kind, indem sie es in der kalten Badewanne sitzen lassen. „Es klingt zynisch, aber gerade Frauen sind sehr kreativ in der Art, Gewalt zuzufügen.“ Männer hingegen neigen eher zu Schlägen oder Schütteln – vor allem bei kleinen Kindern, damit sie aufhören zu schreien oder weinen. „Das machen die Männer in der Regel nicht vorsätzlich. Sie verlieren vielmehr die Selbstkontrolle über ihre aggressiven Impulse", erklärt die Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Maria Große Perdekamp.

Welche Folgen hat Gewalt für Kinder?

Schon der berühmte Klaps auf den Po ist eine Form von Gewalt und hat Aus wirkungen auf die Psyche, da sind sich Experten einig. Ob das im Einzelfall aber schon dauerhaft der Seele schadet, lässt sich schwer sagen. „Es kommt immer auf die Form der Gewalt an und hängt auch von der seelischen Widerstandskraft ab, wie ein Kind mit der Gewalterfahrung umgeht“, sagt Sozialwissenschaftlerin Kathinka Beckmann. Fakt ist aber, dass Erwachsene, die als Kind dauerhaft körperliche, seelische oder sexualisierte Gewalt erleben mussten, ein höheres Risiko für psychische Erkrankungen wie Depressionen haben. Sie leiden auch häufiger unter Übergewicht, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und chronischen Schmerzen.
Aber: Eltern sind nicht perfekt und ein einmaliger Ausrutscher in Form einer Ohrfeige passiert in einer Ausnahmesituation selbst liebevollen Eltern. „Wenn der Vater oder die Mutter darüber spricht und das Kind um Verzeihung bittet, kann das heilsam sein. Das Kind kann dann das Geschehen besser verarbeiten“, sagte Sabine Pankofer, Psychologin und Professorin an der Katholischen Stiftungsfachhochschule München, der Wochenzeitung Die Zeit. Ähnliches berichtet auch Maria Große Perdekamp: „Viele Eltern kommen zu uns und schämen sich, weil ihnen die Hand ausgerutscht ist. Sie stehen unter großem Druck, weil sie hohe Ansprüche an sich und ihre Erziehung haben – und Angst zu scheitern.“ Kostenlose Erziehungsberatungsstellen zum Beispiel helfen Eltern, ihr Verhalten zu ändern. Außerdem gibt es Elternkurse, Familienbildungsstätten oder Hotlines mit guten Angeboten.

So können wir alle helfen

Was aber können Angehörige, Freunde oder Nachbarn dafür tun, um Kinder vor Gewalt zu schützen? Vor allem eines: aufmerksam sein. Ist eine Familie in einer Stresssituation gefangen oder sind Eltern durch ein chronisch krankes Kind dauerhaft überfordert, kann ich auch als Außenstehender einfühlsam nachfragen und meinen Eindruck schildern. „Dabei ist eine verständnisvolle und nicht verurteilende Haltung wichtig“, sagt Maria Große Perdekamp. Zum Beispiel so: „Ich habe den Eindruck, dass es deinem Kind nicht gut geht. Wie siehst du das?“ Je nach Antwort kann man raten, sich beispielsweise an den Kinderarzt zu wenden . Sind die Eltern verunsichert oder überfordert, kann man Adressen von Erziehungsberatungsstellen oder anderen Hilfsangeboten vermitteln. Wer aber körperliche oder sexualisierte Gewalt vermutet, sollte das Jugendamt oder die Polizei benachrichtigen. Die MitarbeiterInnen des Jugendamtes sind selbst bei anonymen Anzeigen dazu verpflichtet, dem Verdacht nachzugehen. Das gilt auch in Zeiten von Corona. „Wir alle sind gefragt und gefordert, Hilfe zu leisten“, betont Kinderschutzexpertin Kathinka Beckmann. „Denn über die Erziehung wacht die staatliche Gemeinschaft – so steht es schon im Grundgesetz.“  

Kostenfreie und anonyme Hilfsangebote

www.kein-kind-alleine-lassen.de
Telefonische und digitale Soforthilfe für Eltern sowie für Erwachsene, die sich Sorgen um ein Kind und seine Familie machen

Elterntelefon der Nummer gegen Kummer 0800 111 0 550
Montags bis samstags von 9 bis 17 Uhr, dienstags und donnerstags von 17 bis 19 Uhr. Im Netz unter www.nummergegenkummer. de/elterntelefon.html

Hilfetelefon Sexueller Missbrauch 0800 22 55 530
Beratung für alle, die sich um ein Kind sorgen und unsicher sind

Medizinische Kinderschutzhotline 0800 19 210 00
Beratungsangebot für Fachkräfte des Gesundheitswesens 

"Die allermeisten Eltern wollen gewaltfrei erziehen“ 

kizz sprach mit Maria Große Perdekamp, fachliche Leiterin des Kinderschutzbundes Köln 

Kommt Gewalt gegen Kinder in allen Schichten vor?
Das kann man so sagen. Die Corona-Krise hat gezeigt, dass selbst in gut situierten, selbstständig arbeitenden Familien Gewalt ein Thema werden kann. Sie stehen unter einem Druck, von dem sie vorher nie auch nur geträumt hatten: Einnahmen brechen weg, existenzielle Sorgen kommen auf. Erstmals gerät hier eine neue Risikogruppe in den Fokus: die Mütter der Mittel- und Oberschicht, die neben Homeoffice und Haushalt jetzt auch beim Homeschooling gefragt sind und ihre Kinder zu Hause betreuen müssen. Ohne auf ihr übliches Netzwerk zurückgreifen zu können. Unter diesen Umständen können Eltern nicht mehr gelassen erziehen und kommen schneller an ihre Grenzen.

Warum schlägt jemand sein Kind?
In den wenigsten Fällen setzen Eltern Gewalt gezielt als Mittel der Erziehung ein. Denn im Grunde wissen alle Mütter und Väter, dass sie ihre Kinder gewaltfrei erziehen sollen – das gelingt nur nicht allen. Es ist vor allem eine dauernde Überforderung, die dazu führt, dass Eltern gewalttätig werden: ein Schreibaby, ein sehr unruhiges oder krankes Kind, alleinerziehende Eltern, Geldsorgen und Armut – da kommen oft viele Dinge zusammen. Manche Eltern können auch nur schlecht mit Gefühlen wie Wut und Ärger umgehen oder haben nie gelernt, darüber zu reden und zu reflektieren. Sie verlieren leichter die Kontrolle, folgen dann schneller einem Impuls von Wut oder Ärger und schreien ihre Kinder an oder schlagen sie.

Sind die Mechanismen für sexualisierte Gewalt ähnlich?
Bei dieser Form von Gewalt geht es weniger um Überforderung, sondern um Macht. Darum, Macht über ein Kind auszuüben, weil man an anderen Stellen im Leben Ohnmacht erfahren hat oder erfährt.

Welche Folgen hat das für kleine Kinder, wenn sie Gewalt durch ihre Eltern erleben?
Egal, ob Kinder geschlagen werden oder ob sie erleben, wie ein Elternteil geschlagen wird, beides hat dieselben Auswirkungen. Je näher einem Kind die Person ist, die ihm Gewalt antut, umso gravierender können die Schäden sein. Sind es die eigenen Eltern, ist das besonders schlimm, weil die das Kind ja schützen sollen und für sein Überleben sorgen. Ein Baby, das durch seine Eltern regelmäßig Gewalt erlebt, hat voraussichtlich später große Probleme, eine gesunde Beziehung zu führen. Sein Urvertrauen ist gestört.

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