Das letzte Kita-JahrSchwungübungen waren gestern

Für Kinder ist das letzte Jahr in der Kita etwas ganz Besonderes. Jetzt sind sie die Großen. Wie sollte eine gute Vorbereitung auf den Schulstart eigentlich aussehen? Und ist sie überhaupt nötig?

Schwungübungen waren gestern
Nicht nur Stifte: Alle feinmotorischen Tätigkeiten bereiten auf die Schule vor © EMS-FORSTER-PRODUCTIONS - Getty Images

Erinnern Sie sich noch an Ihre eigene Vorschulzeit? Wir lernten ein paar einfache Rechenaufgaben und übten, einige Buchstaben zu schreiben, vor allem den eigenen Namen. Außerdem standen Stillsitzen, Schleife binden und der Umgang mit Stift und Schere auf dem Programm. Geprägt von den eigenen Erfahrungen erwarten Eltern heute viel von der Schulvorbereitung im Kindergarten. Dabei wirkt das Konzept „Vorschule“ ein wenig aus der Zeit gefallen. Früher gab es für die Kinder im letzten Kita-Jahr noch gesonderte Vorschulklassen oder Schulkindergärten. Inzwischen wurde dieses Modell in den meisten Bundesländern abgeschafft, um mehr Gestaltungsfreiheit in der Vorschularbeit zu haben. Auch einen verbindlichen „Lehrplan“ gibt es nicht. Die meisten Kindertagesstätten bieten aber besondere Aktivitäten für die Großen an, etwa Ausflüge zur Polizei oder in den Zoo, Projekte für kleine Forscher oder einen Verkehrserziehungstag. Eva Siegert, pädagogische Fachberaterin bei der Fröbel Bildung und Erziehung gGmbH, Region Sachsen, hält solche Ansätze für durchaus sinnvoll. „Solche gemeinsamen Aktivitäten erweitern den Horizont, bieten neue Anregungen, werfen neue Fragen auf und ermöglichen es den Kindern, sich in noch nicht vertrauten Kontexten mit anderen Regeln und anderen Menschen zurechtzufi nden. Eine gute Übung, sich gemeinsam mit anderen Kindern fremde Systeme vertraut zu machen“, sagt sie. Außerdem sollten die Kinder im letzten Kita-Jahr erleben, wie eine Grundschule eigentlich funktioniert. Dafür kooperieren viele Einrichtungen mit benachbarten Grundschulen. Meist geht es weniger um den Unterricht, sondern um ganz einfache Fragen, deren Beantwortung den Kindern die erste Unsicherheit nimmt: Wie sieht ein Klassenzimmer aus? Wie lange geht eine Pause und was darf man da machen? Wo kann man auf Toilette gehen? Was bedeutet der Gong? Ein Ausflug in die Schule erleichtert den Übergang in die neue Umgebung und den neuen Alltag. In einigen Bundesländern kommt auch ein sogenannter Kooperationslehrer oder eine -lehrerin regelmäßig in die Kita und gestaltet gemeinsam mit den Fachkräften den Übergang von der Kita in die Schule.

Die Kita ist keine Dienstleisterin der Schule

Aus Sicht mancher – nennen wir sie mal „erfolgsorientierter“ – Eltern reichen Horizonterweiterung und Schulbesichtigung nicht aus. Sie erwarten mehr von den pädagogischen Fachkräften und sorgen im Zweifel selbst vor. Anders ist der wachsende Markt für Frühförderung am Nachmittag oder Vorschulhefte mit ersten Matheaufgaben, Frühenglisch oder Schwungübungen kaum zu erklären. „Es gibt aber keine verbindlichen Forderungen der Grundschule zu Fähigkeiten, die Erstklässler mitbringen müssen, weder den Namen richtig zu schreiben noch erstes Rechnen oder den Stift richtig zu halten“, erklärt die Fachberaterin Eva Siegert. Tatsächlich haben sich die Grundschulen inzwischen auf die wachsende Heterogenität im Klassenzimmer eingestellt. Fremdsprachenunterricht am Nachmittag beruhigt vielleicht das elterliche Gewissen, ist aber völlig unnötig für das Kind. Eng mit dem elterlichen Wunsch nach Frühförderung und Schulvorbereitung verknüpft ist ein weiteres Missverständnis: Die Kita dient keinesfalls der Vorbereitung auf die Grundschule und auch im letzten Kindergartenjahr muss hier keine Schule „geübt“ werden. Mit dieser Vorstellung tun wir der Kindertagesstätte als frühkindlicher Bildungsinstitution großes Unrecht. Die Kinder sind hier nicht, um für die Schule „fit“ gemacht zu werden. „Wir sollten den Kindern vielmehr eine Grundhaltung von Ich kann das und ich schaffe das vermitteln und ihre Interessen und Stärken wahrnehmen und aufgreifen“, erklärt Frauke Hildebrandt, Professorin für die Pädagogik der Kindheit an der Fachhochschule Potsdam. Und genau dabei sind Eltern und PädagogInnen gleichermaßen gefragt.

Resilient für den neuen Lebensabschnitt

In einer guten Kita sollten sich die Kinder wohlfühlen und entfalten können. Sie sollten das Gefühl haben, mit ihren Interessen gehört zu werden, und ein gesundes Selbstbewusstsein entwickeln, um ihre Bedürfnisse auszudrücken. Das tägliche Miteinander stärkt ihre sozialen Kompetenzen wie Grenzen von anderen zu respektieren, Freundschaften zu schließen oder Verantwortung für andere zu übernehmen. Bekommen die Kinder dabei auch noch regelmäßig die Gelegenheit, sich selbst auszuprobieren und Selbstwirksamkeit zu erleben, entwickeln sich Fähigkeiten wie Ausdauer, Konzentrationsfähigkeit oder Frustrationstoleranz von ganz allein. Man könnte also sagen: Im besten Fall werden die Kinder so in der Kita- Zeit zu starken Persönlichkeiten, die resilient genug sind, um gut mit den vielen Veränderungen des Schulstarts – neue Bezugspersonen, neue Kinder, ein neuer Alltag – umzugehen. Und natürlich sind Kindergartenkinder auch unheimlich wissbegierig. Sie stellen Fragen, sie wollen ihre Welt verstehen und neue Dinge ausprobieren. Dieser natürliche Wissensdurst sollte unbedingt genutzt werden. „Jedes Kind sollte in der Kita den Input bekommen, den es braucht und wünscht. Das reicht von Buchstaben lernen über das Verständnis für Mengen bis zum Nachdenken über die Welt. Jeder Kompetenzerwerb sollte dabei mit dem Interesse der Kinder verknüpft sein“, erklärt Frauke Hildebrandt. Dann sei die Motivation deutlich größer als bei festen Zeiten für den Forscherraum oder die Bücherecke. Passend dazu setzen immer mehr Kindertagesstätten inzwischen auf off ene Konzepte.

Selbstmotiviertes Lernen

Zum Beispiel interessieren sich viele Kinder schon vor der Schule brennend für Buchstaben, die ihnen im Alltag ständig begegnen, sei es in Kinderbüchern oder auf der Straße. Außerdem erkennen sie erste Wörter wie ihren eigenen Namen oder können kurze und lange Wörter voneinander unterscheiden. Dieses Interesse können die Kinder ganz selbstständig in einer offenen Schreibstation verfolgen, in der Kita oder im Kinderzimmer. Im Prinzip ist das nichts anderes als ein Tisch mit viel Papier, Heften, Stempeln und Stiften. Auch Tafeln mit Buchstaben- Magneten oder Buchstaben-Puzzle finden sich dort. An der Station können die Kinder eigene Briefe schrieben und verschicken, sich „Notizen“ machen oder einfach nur drauflos malen. Ein spannender Ansatz ist auch das „Diktat“. Dabei erzählen mehrere Kinder gemeinsam eine Geschichte und eine Fachkraft oder ein Elternteil schreibt mit. Ähnliche Ansätze gibt es auch für das Mengen- und Zahlenverständnis. Bei Gesellschaftsspielen wie Mensch Ärgere Dich Nicht wird gewürfelt und es werden Figuren gesetzt; dabei sind Abzählen und das Unterscheiden von Würfelbildern wichtig. Beim gemeinsamen Kochen werden nicht nur wichtige Erkenntnisse rund um gesunde Ernährung und Lebensmittel vermittelt. Es geht auch um Mathematik, zum Beispiel beim Einkaufen oder dem Abmessen und Abwiegen der Zutaten. „In der offenen Arbeit greifen wir die individuellen Themen der Kinder auf und verknüpfen sie mit denen anderer Bildungsbereiche. So haben die Kinder von Anfang an Freude an ihren Entdeckungen und erleben sich in ihrer Selbstwirksamkeit: Ich kann etwas und ich weiß sogar, wie ich noch mehr darüber herausfinden kann. Wenn natürliche Neugier und Lernlust so aufgegriff en und verstärkt werden, ist das eine optimale Grundlage für den weiteren Bildungsweg“, erklärt die Fachberaterin Siegert. Ein weiteres Beispiel aus dem Kita-Alltag: Es gibt durchaus Kinder, die sich nicht für das Malen und Schreiben interessieren. Statt sie zu Feinmotorik-Übungen mit dem Stift zu drängen, können die Fachkräfte zum Beispiel mit ihnen nähen. Auch dabei werden sie einen Stift in die Hand nehmen und mit der Schere schneiden, im besten Fall ganz aus eigenen Stücken und mit großer Freude.

Wichtige Zusammenarbeit

Natürlich ist die Kindertagesstätte „nur“ eine familienergänzende Bildungsinstitution. Deshalb sind auch wir Eltern besonders wichtig für den Übergang vom Kindergarten in die Schule. Die gute Nachricht: Im Prinzip brauchen wir es nur den ErzieherInnen einer guten Kita gleichtun. Auch wir sollten unsere Kinder in ihrem Handeln bestärken und ihre Interessen und Bedürfnisse wahrnehmen und aufgreifen. Und wenn wir uns unsicher sind, was die Kinder eigentlich gerade begeistert, müssen wir nur die „anderen“ ExpertInn en für unseren Nachwuchs fragen, und zwar die Fachkräfte. Natürlich sollten auch die PädagogInnen einen Schritt auf die Eltern zugehen und ihnen Impulse mit auf den Weg geben. „Wir wissen, dass Eltern gerade vor dem Wechsel in die Grundschule einen großen Beratungsbedarf haben. Der Druck des Schulerfolgs beginnt. Viele Eltern verspüren das Bedürfnis, ihr Kind akribisch auf den sogenannten Ernst des Lebens vorzubereiten. Damit wachsen die Erwartungen an die Kita“, sagt Hildebrandt. Umso wichtiger sei ein aktiver Austausch zwischen Kita und Eltern in dieser Zeit. Die Fachkräfte sollten einerseits von den Stärken und Interessen des Kindes berichten und gleichzeitig über das pädagogische Konzept für das letzte Kindergartenjahr und mögliche Erwartungen der Grundschule aufklären. Bei den meisten Eltern ist die Erleichterung groß, wenn sie erfahren, dass niemand von ihrem Kind erwartet, dass es vor dem Schulstart das ABC aufsagen oder bis 100 zählen kann. Die kindliche Neugier ist die beste Voraussetzung für den Schulstart. Und entspannte Eltern können ihr Kind zuversichtlich auf die Schule vorbereiten und seinen Weg als interessierte Begleiter unterstützen. Der Leistungsdruck und der Ehrgeiz kommen schließlich ohnehin – oder eher: leider – früh genug.

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