Kleine Kinder haben noch keine Vorurteile – der Mythos hält sich wacker. Doch wer beim eigenen Nachwuchs mal genau hinhört, entdeckt schnell, dass das so nicht ganz stimmt. Ein Mädchen erzählte mir unlängst in der Kita, sie würde ja auch gerne Dino-Pullover wie mein Sohn tragen und mit Plastiksauriern spielen, doch das sei ja nur etwas für Jungs. Ablehnung durch die Größeren der Kindergartengruppe erfuhr auch ein Junge, der stolz mit Glitzernagellack auf den Fingern in die Gruppe kam. Natürlich werden solche Momente meistens von den Fachkräften und uns Eltern aufgefangen. Wortreich erklären wir, dass auch Frauen Dinos erforschen oder Jungs mit Glitzerlack ziemlich cool sind. Verhindern können wir allerdings diese ersten „Vorurteile“ – in der Pädagogik spricht man von „Vorvorurteilen“ – nicht. Denn Kinder beginnen sich im Kindergartenalter voneinander abzugrenzen, Jungs spielen plötzlich lieber mit Jungs, Ältere grenzen sich von den Jüngeren ab. Die einen mögen Dinos, die anderen Pferde. Dieses Verhalten ist ganz normal und trägt zur Persönlichkeitsentwicklung bei. Auch das Bemerken von Unterschieden und das Fragen danach gehören dazu und sollten nicht unterbunden, sondern ernst genommen werden. Kinder wollen nun mal wissen, warum manche Menschen eine andere Hautfarbe haben oder im Rollstuhl sitzen. Ganz wichtig ist dabei die Erkenntnis, dass wir zwar alle verschieden, aber gleich viel wert sind. Deshalb darf die „kindliche“ Abgrenzung eben nicht in Feindseligkeit oder Ablehnung gipfeln. In solchen Momenten sind wir Erwachsenen als Vorbilder gefragt. Wir müssen Akzeptanz und Wertschätzung füreinander aktiv vorleben. Für Gabriele Koné von der Fachstelle Kinderwelten beginnt die Auseinandersetzung mit Vorurteilen deshalb auch bei uns Erwachsenen selbst. „Vielfalt ist eine Realität. Gleichzeitig haben wir alle unsere Vorurteile. Um Respekt und Toleranz zu vermitteln, müssen wir deshalb unsere eigene gesellschaftliche Positionierung und damit verbundene Machtverhältnisse reflektieren“, sagt die Pädagogin. Tatsächlich beurteilen wir unsere Welt unbewusst mal positiv, mal negativ. Ein Klassiker: Mehrsprachigkeit mit Sprachen wie Französisch oder Englisch wird deutlich positiver bewertet als mit Türkisch oder Arabisch.
Wissen beugt Vorurteilen vor
Frei von solchen Urteilen sind wir alle nicht, ganz im Gegenteil. Durch sie finden wir uns in der Welt zurecht, bilden wir uns eine Meinung. So weit, so normal. Doch es gibt zwei „Auswege“ aus den eigenen, zu pauschalen Vorurteilen. Erstens: Wissen. Je mehr wir über andere Kulturen oder Lebensumstände wissen, desto differenzierter können wir uns eine Meinung bilden. Kennen wir nur wenige Einzelheiten, fällt unser Urteil über Menschen und ihre Lebensumstände oder Eigenschaften grob und ungenau aus. Zweitens: Selbstreflexion. Wenn wir uns unserer eigenen Vorurteile bewusst werden, fällt es uns leichter, sie möglicherweise zu korrigieren. Doch was heißt das für den Alltag in der Familie oder der Kita? Beginnen wir mit dem zweiten Faktor: Die Reflexion muss im Team stattfinden, die Fachkräfte und Eltern sollten sich also selbst fragen, ob sie mit Jungen anders spielen als mit Mädchen oder bestimmte Erwartungen mit dem kulturellen Hintergrund von Kindern und ihren Familien verknüpfen. Noch interessanter ist allerdings vielen verschiedenen Hautfarben, eine sitzt sogar im Rollstuhl, eine andere hat ein gebrochenes Bein. Auch bei Kinderbüchern legen wir Wert auf diverse Titelfiguren, unterschiedliche Familienkonstellationen und Mehrsprachigkeit“, erklärt Erzieherin Kübra Ogur. Auf dem Kita-Flur gibt es außerdem ein großes Sprachmännchen, das auf Knopfdruck mehrere Sprachen spricht. Mehrere „Kreativ-Tonies“ für die beliebte „Tonie- Hörspiel-Box“ wurden von Eltern mit Geschichten in ihren Landessprachen besprochen. Die Kinder begegnen dieser Vielfalt mit großer Offenheit und Neugier, berichtet Ogur. Sie wollen das Anderssein vor allem verstehen – warum isst jemand kein Schweinefleisch, warum holen manchmal zwei Papas ein Kind ab oder warum sitzt das Mädchen im Rollstuhl? Deshalb sind Erklärungen der erste Aspekt, also das Wissen über andere Kulturen, Familienmodelle und Lebensumstände.
Vielfalt erlebbar machen
Für Kinder wird Vielfalt vor allem durch Erlebnisse greifbar. Manche Kitas setzen dabei bewusst auf „internationale“ Projektwochen, in denen sie zum Beispiel die unterschiedlichen Gotteshäuser der großen Weltreligionen besuchen oder Eltern mit Migrationshintergrund einladen, etwas aus ihrer Heimat zu kochen und von dem Land zu erzählen. Im Fröbel-Kindergarten Wasserkäfer in Hürth in Nordrhein-Westfalen setzt man für das Erleben von Vielfalt dagegen eher auf den Alltag. „Wir wollen zeigen, dass Vielfalt etwas sehr Normales ist. Wir haben zum Beispiel Puppen mit auf Augenhöhe wichtig. Dafür nehmen sich die ErzieherInnen bewusst Zeit, zwischendurch und im Morgenkreis. Hier berichten Kinder regelmäßig von Urlauben oder religiösen Festen. Vor allem den Vorurteilen durch Unwissenheit wird so ganz früh entgegengewirkt. Die Kinder lernen andere Kulturen, andere Familienkonstellationen kennen und entdecken viele Gemeinsamkeiten, aber eben auch Unterschiede. Natürlich endet das Erleben von Vielfalt nicht bei Spielzeug, Kinderbüchern oder Feiertagen, wie die Pädagogin Gabriele Koné betont. „Kitas tun gut daran, bei der Auswahl ihrer Teams auf Diversität zu achten. Das bietet Identifikationsmöglichkeiten, mehr Entwicklungschancen und gibt neue Impulse für den Kita- Alltag.“
Ein Gewinn für den Kita-Alltag
Wie eine solche frühe „Toleranz-Pädagogik“ positiv wirken kann, zeigt eine Studie der Universität Jena. Der Psychologe Andreas Beelmann entwickelte für 400 Grundschulkinder ein Toleranz-Training aus drei Modulen: Vermittlung von Wissen über andere Kulturen und Nationen, spielerischer Kontakt zu Gleichaltrigen mit anderer ethnischer Herkunft und ein Training sozialer Kompetenzen, bei dem es darum geht, sich in andere hineinzuversetzen und Probleme aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Ein wichtiges Ergebnis: Kinder, die regelmäßig Kontakt mit Gleichaltrigen aus anderen Kulturen hatten, waren Vielfalt gegenüber aufgeschlossener als Kinder, die das Training nicht absolviert hatten. Oder klarer ausgedrückt: Vielfalt im Kita-Alltag ist ein Gewinn, ja vielleicht sogar ein wichtiger Beitrag, damit sich unsere Kinder zu weltoffenen und toleranten Erwachsenen entwickeln. Natürlich verhindert auch eine tolerante und weltoffene Haltung in der Kita nicht vollends, dass Kinder sich im Alltag heftig streiten, schubsen und schlagen oder heftige Schimpfwörter gebrauchen. „Wir legen großen Wert auf einen respektvollen Umgang. Bei alltäglichen Konflikten greifen wir als Erzieherinnen natürlich ein und erklären, dass man so nicht miteinander umgeht. Natürlich kindgerecht und auf Augenhöhe“, sagt die Erzieherin Kübra Ogur. Das heißt, ins Gespräch gehen, erklären, dass Schimpfwörter, die vielleicht bei größeren Geschwistern aufgeschnappt wurden, sehr verletzend seien können, und deutlich machen, dass körperliche Gewalt oder Ausgrenzung keinen Platz in einem respektvollen Miteinander haben.
Eltern als erste Vorbilder
Und auch hierbei tragen besonders wir als Eltern eine große Verantwortung. Denn ob ein Kind zu einem toleranten, respektvollen und weltoffenen Menschen heranwächst, hängt von uns ab. Deshalb ist es so wichtig, dass wir einen respektvollen Umgang miteinander vorleben, offen auf Menschen zugehen und nicht abwertend über andere sprechen. Auch Empathie und Verständnis für andere entwickelt sich vor allem im Alltag – in der Familie und im Kindergarten. Dazu gehört auch, zu den eigenen Gefühlen, Schwächen und Fehlern zu stehen. Natürlich gilt das auch für unsere Kinder. „Sie sollten erleben, dass sie sich einbringen können und sie und ihre Meinung geschätzt werden“, sagt Gabriele Koné. Und sie sollten spüren, dass sie nichts leisten müssen, um geliebt zu werden. So stärken wir ihr Selbstvertrauen, geben ihnen die Chance, selbst Respekt und Achtung zu erfahren und zeigen ihnen, dass man für das eigene Selbstwertgefühl niemanden abwerten muss. Übrigens scheint das in der Kita meines Sohnes sehr gut zu gelingen. Der kleine Junge mit dem Glitzerlack ließ sich bis heute nicht vom Spott der Großen beeindrucken und kommt weiterhin mit bemalten Nägeln. Auch das Mädchen mit geheimer Dino- Leidenschaft hat nun den ersten T-Rex für ihren Reiterhof gekauft und trägt voller Stolz einen Saurier-Pullover. Ihr neuer Berufswunsch: Paläontologin.